Aus Scriabins Grab II

(Anhang zu einer Topologie des Narrativen)

-- aus strikt parteiischer, den Kern des Geschehens unter Umständen grob verzerrender aktiver Sicht --

 

zum Betrachten legen Sie bitte die Zehnte Klaviersonate (op. 70) von Alexander Scriabin auf oder spielen Sie sie auf einem CD-Player bzw. einem ähnlichen Gerät ab.
Sollten Ihnen die forte-Passagen der Musik
(von der Scraibin behauptete, sie sei eine "Insekten-Sonate ... Insekten sind aus der Sonne geboren, sie sind Küsse der Sonne")
ab etwa Takt 73 zu laut sein, drehen Sie sie einfach leiser
(denn wir Menschen sind, wie Sie dem in diesem Stück versammelten Bildmaterial unschwer entnehmen können, schließlich keine Insekten, sondern von Grund auf frei).
Lassen Sie sich daher beim Betrachten der Bilder und Texte soviel Zeit wie Sie nur wollen.
Beenden Sie ihr Betrachten allerdings auf jeden Fall dann, wenn die Klaviersonate - sie dauert je nach Aufnahmen etwa zwölf Minuten - zu Ende ist.

***

 

 

Ein neues Kind
oder
ein Prinz
oder
ein Gott
oder
ein Teppich!
Penelope ...

 


c copyright 2000 K.Wyborny


In der de-luxe-Edition haben Sie von hier aus einen Zugriff auf den im Adobe Acrobat pdf-Format gespeicherten gesamten Text von K.Wybornys

"Grundzüge einer Topologie des Narrativen"

Über Scriabin und das von ihm postulierte Multimedia-Format siehe auch

"Was erwarten wir eigentlich von Bildern"
(inclusive der ersten zehn Minuten des Videos "Aus Scriabins Grab I")

Sollten Sie dagegen ästhetische Probleme im Grunde für belanglos halten und eher an zeitgenössischen politischen Fragestellungen interessiert sein, klicken Sie ruhig auf

"Wer hat Angst vor Rot/Grün"
(Neue Illustrationen zur Comédie Artistique)

Wenn Sie dagegen eher an rein geschichtlichen Fragestellungen interessiert sind, könnten Sie bei diesem Link gut bedient sein:

"Aus den Bauernkriegen"
(Illustrationen zur Geschichte des auslaufenden Mittelalters):

Freunde von ins Religöse driftender Dichtkunst (oder solche, die das Betrachten des auf dieser CD versammelten Bildmaterials bereits bereuen) sollten schließlich bei folgendem Link auf ihre Kosten kommen

"Pilgerfahrt"
(Episches Gedicht von K. Wyborny mit Illustrationen von Thomas Struck)

Nun aber viel Spaß mit

Aus Scriabins Grab II

(Anhang zu einer Topologie des Narrativen)

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Helena.jpg
(très doux et pur)

Einiges Tages näherte ich mich - damals war ich noch ein junger Mann und häufig auch ohne Anlaß erregt - in einem Park einer interessant aussehenden Dame, die freilich, als sie meines Zustands gewahr ward, rasch vorzog, sich von mir zu entfernen, woraufhin ich ihr lieber nicht nachging, sondern noch ein wenig herumschlenderte.


 



Albertine.jpg
(avec une ardeur profonde et voilée)

Eines Tages ging ich auf die Jagd und näherte mich einem kapitalen Hirsch, der sich freilich, als er Wind von mir bekam, lieber aus dem Staub machte, so daß ich unverrichteter Dinge weiterzog.


 

Lucretia.jpg
(cristallin)


Penelope.jpg.
(lumineux vibrant)

Ich äste stolz und zufrieden vor mich hin, als ich den Geruch eines mir schon lästigen Weibchens bemerkte, dem ich auswich, bis sie mir zu meiner Erleichterung bald nicht mehr folgte...


 



Kleopatra.jpg
(avec émotion)


 



Pasiphae.jpg
(haletant)

Eines Tages näherte sich Carl - damals, als junger Mann, war er häufig auch ohne direkten Anlaß erregt - in einem Park einer interessant aussehenden Dame, die freilich, als sie seines Zustands gewahr ward, rasch vorzog, sich von ihm zu entfernen, woraufhin er ihr lieber nicht nachging, sondern noch ein wenig umherschlenderte






Henriette Vogel.jpg
(avec élan)


 

Julia Capulet.jpg
(avec une joyeuse exaltation)


 



Virginiensis.jpg
(avec ravissement et tendresse)

Auch die Frau liebt die lange Verfolgung, wenn diese dezent ist. Allzuleicht wird sie freilich dann zur "ewig Fliehenden", wie Proust das Wesen der sich ihm zu seinem Entsetzen entziehenden Albertine einmal zu fassen versuchte. Während der Mann die Verfolgung in jeder Phase zu genießen vermag, muß sie stets Angst haben, daß der Wendepunkt nie kommt. Sie muß auf einen solchen, der ihr ein Heim bescheren wird, hoffen.


 



Gaia.jpg
(avec une volupté douloureuse)


 

Manturna.jpg
(avec une joie subite)

Man kann dies alles gar nicht pedantisch genug beschrieben, weil es Ausdruck einer schon wieder bewundernswerten Pedantik ist, die in den Mustern eines Teppichs höchste ästhetische Erfüllung findet. Der Mann brauchte Zehntausend Jahre bis er eine Knüpfmaschine erfand, mit der er das ungefähr nachmachen konnte.


 

Phädra.jpg
(avec une joie subite)


 





Danae.jpg
(de plus en plus radieux)

Kann beiderseitige Langeweile das ideale Ziel einer geschlechtlichen Vereinigung sein, die doppeltseitig bewegungsneutrale Indifferenz? Ich meine nicht. Derartig gähnende Langeweile stellt sich nur im Fall eines unglücklichen Unfalls ein, oder postnodial, wenn man sich wieder in der Welt befindet, und sie leider nicht so rosig ist, wie man sich das, noch ganz hormondurchflutet, bei seinem Wiedereintritt in sie vorgestellt hat.


 



Heloise.jpg
(très doux)


 



Isolde.jpg
(murmuré)

Der Teppich der Penelope, der farbenfroh bunte, er ist fertig, als Telemachos die siebzehn erreicht. Der Teppich, an dem sie die nächsten drei Jahre webt, ist nur eine Täuschung für ihre Freier. Nachts trennt sie davon auf, was sie tagsüber geknüpft hat. Sie behauptet, es wäre das Leichentuch für Laertes, den fürs Sterben bald fälligen Vater des Odysseus (manche Dichter behaupten allerdings Sisyphos, der Gründer Korinths und einer der ersten bezeugten Benutzer der Schrift, wäre sein wahrer Vater). Aber es ist eine Täuschung. Es ist das an Farben arme Leichentuch für ihren Ehemann. Das Leichentuch des Odysseus. Es ist schwer die letzten drei der versprochenen zwanzig Jahre zu warten. Nachts wird sie unter Tränen schwach. Manche sagen, sie hätte heimlich mit jedem ihrer Freier geschlafen, und daß deren Samengemisch dann der zügellose Gott Pan entsprungen wäre. Die vielen Tränen, die sie laut Odyssee tagsüber weint, wären dann Tränen der Reue.


 

 Madame Bovary.jpg
(en s'eteignant peu a peu)


 

Prema.jpg
(avec une douce ivresse, puissant, radieux)

Aber auch dieser Teppich, obwohl sie ihn nachts immer wieder auftrennt, wird fertig. Sie wird es Odysseus nicht verzeihen. Wenn er zurückkommt muß er beweisen, daß er es wert war. Nicht nur ein Garn erzählen. Die Odyssee ist zuletzt die Geschichte der Penelope. Am Ende muß der Luftikus beweisen, daß er es wert war, daß sie auf ihn wartete, daß sie mit jedem der Freier schlief.


 

Pertunda.jpg
(avec élan lumi, peux vibrant)


 

Rhea.jpg
(avec ravissement)

Der Teppich der Penelope. Als Odysseus von ihm vernimmt, weiß er, daß er die Freier töten muß, obwohl sie ihm ganz und gar gleichgültig sind. Die Größe des Teppichs, das Ausmaß der Tränen, aus denen er gewirkt ist, macht ihm klar, wie lang seine Reise gewesen ist. Er selbst ist dabei nicht gealtert. Aber seine Frau ist es. Um diesen an Farben armen Teppich. Welcher zusammen mit dem großen bunten der Größe seines Sohns entspricht. Er weiß, daß sie ihm das nie verzeihen wird. Aber er kann nicht mehr weiter reisen. Er ist jetzt zu Hause. In diesem verdammten Ithaka, der elendsten aller griechischen Inseln.


 

Eurydike.jpg
(fremissant, ailé)


 

Kirke.jpg
(avec une douce langeur de plus en plus eteinte)

Nach seinem Sieg über die Freier und dem Mord an den mit ihnen verbandelten verführerischen Mägden ist Odysseus alt. Seine Suche ist zu Ende. Jetzt wird er nicht einmal mehr eine Magd verführen. Das Individuum, das er geworden war, das er gewesen ist, das sich selbst verantwortlich gewesen ist, ist begraben. Sein rotes Haar ist dünn und grau. Ab und an erzählt er Teile seiner Geschichte. Vielleicht wird jemand sie weitererzählen. Jetzt ist er nur noch ein kleiner, ein mieser Chef, wie es viele kleine miese Chefs gibt, überall auf der Welt. Wie es sie immer gegeben hat, wie es sie immer geben wird. Irgendein halblegitimer Sohn wird ihn überraschend erschlagen. Am Rande wieder der Welt. Der am Rand der Welt bleiben wird, wenn niemand seine Geschichte erzählt. Aber er hat sein Heim. Und Penelope gibt hoffentlich Ruhe. Auch sie ahnt, daß sie in eine Geschichte verwickelt ist, welche ihrer beider wirkliche Größe übersteigt. Es macht sie nicht glücklich. Telemachos ist auf und davon. Ein sich langweilender, ein gleichgültiger Gott, dessen Abenteuer niemanden interessieren. Manche sagen, er hat Kirke geheiratet, einst die Geliebte seines Vaters.


 

Was für die Frau die Kinder sind, was der Teppich ist, ist für ihn, der einst Jäger und Kundschafter war, die lange Reise, ist die Spur, die er hinterläßt, ist der Bericht seiner Reise, sind die Meilensteine, die er auf einem neuen Weg gesetzt hat, ist der Weg selbst. Von ihm benannte Inseln, die Bering-Straße, die Maghellan-Straße. Aber auch das ist vorbei. Bei Seewegen erhielt sich der Name, die Landwege wichen der jeden entdeckten Weg vernichtenden Zivilisation. Nur die Namen der Gebirgspässe.blieben, Grimsehl, Brenner, Furka - sind sie nach ihren Entdeckern benannt? Kaum. Eher nach dem in der Nähe liegenden höchsten Berg, der einer Stammesgemeinschaft als Totem diente. Auch diese Namen uralt, wie die unserer Flüsse. Vistula, die Weichsel, von keinem römischen Soldaten gesehen und doch in jedem römischen Geographiebuch vorhanden. Kaufleute haben davon berichtet. Flumen Albis, die Elbe. Kommt nicht vom lateinischen albus - weiß. Nicht vom "albus an ater" des Catull, mit dem er seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Caesar ausdrücken wollte. Ist mir ganz egal, ob du weiß oder schwarz bist. Und der Elbe ist Caesar noch gleichgültiger. Sie hatte ihren Namen bereits bevor die Germanen kamen. Aber der Jäger, der Kundschafter, verfügt über mehr als nur einen Namen, er verfügt über eine Geschichte. Es ist seine Geschichte, die ihm allein eigene Geschichte von seinem Weg. In ihr entdeckt er seine Individualität. Die Suche ist eine Suche nach sich selbst. Ich war klein, jetzt bin ich groß. Ich war dumm, jetzt bin ich schlauer. Ich war Odysseus, ich war Pytheas aus Massalia, ich war Al-Idrisi aus Tanger. War Ibn Battuta, Marco Polo und der christustragende Colon, war Stanley und Livingstone, Amundsen und am Ende der lächerliche Scott. Aber die mit der Geographie direkt Verbundenen bilden ja nur den Sonderfall. Erstaunlich viele waren erst klein, dann wurden sie groß und wollen ganz gern, daß das erzählt wird; wenn sie es nicht selber können oder wollen. In wohlgefügten jedermann verständlichen Narronen. Ich war da, und da hab ich was gemacht, und da kam einer, dem hat das nicht gepaßt, ich aber ---- ja, ja.



 

Ende

c copyright 2000 K.Wyborny