K.Wyborny

VEREINIGT

(Roman aus Deutschland)

Dritter Teil

WANDERUNG DURCH DIE MARK BRANDENBURG


Kapitel 5

 

Beim Wenden entdeckte er, daß er sich am Rand des Friedhofs befand - eigenartig, bei seiner Ankunft hatte er ihn gar nicht wahrgenommen. Und als Kind ebenfalls nicht, vielleicht weil hinter der niedrigen Klinkermauer eine Reihe Fliederbüsche schon damals den Blick auf die Gräber verstellte. Die Anlage, als er durch eine eiserne Gittertür in sie hineinschritt, auf sonderbare Weise konfus: Gepflegtes wechselte mit Zugewachsenem ab, manchmal mit bereits Überwuchertem, nach ganz undurchsichtigem Muster; andere Teile offenbar nie benutzt, fast Wildnis, worin hüfthoch das Unkraut wuchs . Ein von Ahorn gesäumter Sandweg bildete die Zugangsachse, beidseitig führten davon Pfade zu den Gräbern. Ihn überraschte deren geringes Alter, hatte er doch vermutet, auf so einem Dorffriedhof ließen sich Grabsteine bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. In der Mitte ein niedriges Gebäude, worin Beerdigungszeremonien beginnen mochten. Die neueren Grabsteine, so ab 1960, in kompakten Standardformaten und auf unmißverständliche Weise häßlich - aber was konnte schon hübsch an so einem simplen Grabstein sein. In den gepflegteren Partien Zusammenballungen einzelner Familiennamen - Ringel, Borchert, Polte - da wurde von den Nachkommen en gros gepflegt. Auch dort nichts älter als 1950, das verblüffte Philipp immer mehr - hatte man die vor der DDR-Gründung angelegten Gräber eingeebnet? Laut Parteidirektive: 'Betrifft Behandlung von Friedhöfen'. War derartige Radikalität möglich? Oder werden Gräber generell nur erhalten, solange die Kirche Wiederauferstehung und ewiges Leben verspricht? Zwischen gepflegten Partien immer mal Flächen ganz stillgelegt, worauf das Unkraut überhand nahm. Obgleich nicht gerade ein lebhafter Verteidiger der pragmatischen Komponente von Kirche, hätte Philipp sich jetzt etwas Gepflegteres gewünscht, ähnlich dem Friedhof von Auvers mit den nebeneinanderliegenden schlichten Grabsteinen der Brüder van Gogh, er hatte ihn im Frühjahr während seines vergeblichen Versuches, den Südseefilm in Cannes unterzubringen, besucht. Ein schöner Ort. Gleich neben der Ebene, auf welcher Vincent die letzten Landschaften malte, Himmel über Kornfeld, in einer Ebene, nicht mehr im Süden, noch nicht im Norden, deren Weite der Vertikalen Hohn spricht, wo Horizont und Himmel derart auf die Ebene drücken, daß die Vertikale und mit ihr ein jeglicher solche Landschaft malender Maler lächerlich wird - nur eine weitere alberne Vertikale unter Gottes Himmel. So daß van Gogh, das Kind eines zu flachen Landes, geradezu zwangsläufig sich hatte erschießen müssen. Gerade weil er der Flachheit seiner Heimat im Süden entkommen zu können gehofft hatte: wie er sie, vom Süden verbrannt, in Auvers halbverrückt wiederfand, auch noch auf höherer Ebene, war er - verloren. Monet entdeckte zur gleichen Zeit dagegen die bildstabilisierende Wirkung der Pappel, für ihn besaß die Horizontale keine - außer in ein paar naiv dem Meereshorizont verpflichteten Jugendwerken - verführerische Kraft. Dort in Auvers empfand Philipp plötzlich als angemessen, sich selber ein Ohr abzuschneiden, um es auf Vincents Grab nun abzulegen - dann nahm er ganz im Gegenteil dem Toten sogar etwas weg, ein paar Blätter Efeu zwar nur, der üppig drauf wuchs, aber gewiß enthielten sie noch immer ein paar Atome van Goghs. Philipp versteckte sie in der Jackentasche, um später einen Tee aus den Blättern zu brauen, vielleicht bauten sich ja dann einige dieser wertvollen Künstleratome bei ihm ein. An grade diesem Grab wurde er zum Grabräuber, aus Übermut albern; war er frei dabei gewesen? Zweifellos, aber wohl nur in einer Freiheit zum Bösen, das er da in sich spielen fühlte.

'Ernst Zimper', 'Gustav Lemme', 'Otto und Luise Vogt', las er - auch links, zum Dorf hin, bildete eine Klinkermauer die Friedhofsgrenze. Ja, 'die Anderen': sie sollten die Gräber pflegen, damit man sie betrachten konnte, ihm selbst kam aktive Grabpflege sinnlos vor. Das Grab seiner Mutter hatte er nach ihrer Beerdigung, sie starb bei einem Besuch seines Onkels Rudi in Stansfurt und war dort begraben, nie wieder aufgesucht, ebensowenig wie das der Großeltern. Inzwischen war die atomare, die physikalische Substanz seiner Familie bereits in der Welt zerstreut - wäre nicht schön gewesen, wenn sie alle an einem Platz begraben wären, hier zum Beispiel? - jetzt wäre ihm das willkommen. Und die Blätter von van Goghs Grab, durch die er sich mit dem großen Maler, so sehr fühlte er sich dessen radikalem zeichnerischen Bohren in der Wirklichkeit verpflichtet, verknüpfen wollte, unter Zuhilfenahme von gewöhnlicher, allseits respektierter und an die Materie gebundener Kausalität? Was war aus ihnen geworden? Daß er es nicht wußte, bedeutete wohl, daß er, statt zu einer Konzentration von Künstlermaterie beizutragen, nur der Entropie, die alle Materie sinnlos im All verteilt, die Arbeit abgenommen hatte - eine Waschmaschine wird sie mit gähnender Gleichmut verschlungen und wieder ausgespieen haben. Offenbar war das Ritual jener Teezeremonie, wie ironisch auch immer gemeint, womit die physikalische Vertäuung mit dem bohrenden Geiste van Goghs hätte bewerkstelligt werden müssen, in tatsächlicher Ausführung unakzeptabel, eine das Perverse streifende Gotteslästerung, als allein für einen selbst bestimmte Geste peinlich sentimental. Nicht einmal die Aufmerksamkeit, sie wegzuwerfen, schenkte er jenen Blättern. Dabei schien ihm der Gedanke, man lebe nach dem Tode fort, nicht einmal unglaubhaft, hielt er doch den Übertragbarkeit einschließenden Sieg des Geistes über die Materie mittlerweile nicht nur für erwiesen, sondern schon für selbstverständlich und vollständig - Unsterblichkeit ist möglich, aber nur während wir leben, so wohl die Idee dahinter: so leicht wir von der Unsterblichkeit unserer Vorgänger schmecken, so schwer gelingt es uns bei der möglichen eigenen. Und vielleicht waren ja, indem er den Efeu berührte, bereits ein paar dieser unsterblichen Atome in ihn eingedrungen, nun in seine Haut eingebaut, durch die zahllosen lebensnotwendigen Öffnungen, die den Austausch des Körperinneren mit der Umwelt regulierten - gar nicht mal unwahrscheinlich, schon so ein kleines Blatt berherbergte ja schaurig viele jener Atome.

Lag in der von seinem Vater, dem laut Zeugnis seiner Schwestern Halb-Analphabeten, angeschleppten Bücherkiste der wahre Grund dafür, daß er spätestens seit jener Italienreise, auf der er Cornelia nahe zu kommen suchte, einen Knall hatte? Denn den hatte er offenbar. Kommt das heraus, wenn man Kinder nicht kindgerecht ihre Schlauheit schärfen läßt, mit Bauklötzen, Märchen und Indianerspielen? Was für ein Meanderthal sich dann entfaltet - wäre für ihn besser, 'gesünder' gewesen, die Finger ganz von "Moby Dick", "Ilias" und "Göttlicher Komödie" zu lassen, und Verständlicheres wie den "Struwwelpeter" ins frühe Leben zu nehmen? Dann wäre er vielleicht nie ins Lesen gekommen. Und im übrigen hatte er damals sogar die Wahl, die Kiste enthielt auch leichtere Kost, "Die Biene Maja", "Sigismund Rüstig", "Das Erbe von Björndal", mithin sogar ein nordisches Äquivalent von "Vom Winde verweht", es war alles vorhanden. Er begriff aber sehr früh, daß das andere - Schund war, und nicht nur das, es war: böse. Nicht gutartig böse wie die stumme Natur, oder das, was Vera und er einander angetan hatten, es war - sogar vom Teufel verlassen; und noch böser war, davon zu stehlen, wie er es mit der Darstellung seiner Abenteuer vom Plauer See tat. In diesem Begreifen lag die Art Freiheit, die ihm gegeben, die ihm geschenkt worden war, und wenn herauskam, daß er einen Knall hatte - was solls. Was sonst wär schon aus ihm geworden? Im schlimmsten Fall eine Art Klempner, der es mit etwas Glück zum Millionär gebracht hätte. Oder Einer, der sich um eine Physikprofessur bemüht und es ebenfalls nicht ganz oder grade so geschafft hätte, ebenfalls fast eine Null. Die Leutnants müssen fallen. Und sogar gegen so einen gescheiterten Physikprofessor - schließlich war hier weder ein Einstein noch ein Heisenberg nachgewachsen, so daß sich (außer als Träger von prachtvollen Ämtern und Würden) jeder Physiker in Deutschland als gescheitert betrachten muß, als schlappen Aufguß des Möglichen - sah er gar nicht so schlecht aus: immerhin machte er, was er für richtig hielt, und war nicht auch ein Genuß, nicht für jemanden, sondern für sich selbst zu sprechen? Zu spüren, wie jedes Wort Einen in sich bestärkt, wie es innere Kraft verleiht und von hundert ängstlichen Rücksichtnahmen befreit - wenn man beim Sprechen nicht Sklave des Effekts ist, sondern ein freier Mensch! Und das obwohl nichts Eigenes dem Menschen imponiert: war nicht wenigstens das wunderbar? Ja, gebt den Kindern Deutschlands nur das Kindgerechte, ha, ha! Ihr werdet sehen, was herauskommt. Ein weltfernes Land, worin das Kindeswort gilt, wo man Unsterblichkeit nur noch im Kindesmund entdeckt, in der Zukunft der Kinder, welchen man zu deren besten alles vorenthält, was schaden könnte. Und was kann einem Kind nicht alles schaden! Da keine Generation die eigenen Einsichten zu übertreffen weiß, bleibt das Kindgerechte dann leider auf die beschränkte Einsichtsfähigkeit der Erwachsenen beschränkt. Aber die liebe Vernunft hat selbstverständlich immer recht. Bis zu allerdiger Verdumpfung. Aber hört, oh hört, Lebende dieses Landes: Scheitern tun wir leider irgendwann alle.

***

Am Ende des Friedhofes zur Feldseite eine Reihe jüngerer Ahornbäume, dahinter war die Klinkermauer verfallen, an einigen Stellen sogar durchbrochen, dort fiel Philipp eine Gruppe von Steinen mit gotisierender Inschrift auf: Smaczny, Frantisek Zalud, Franz Hirka - östlich klingende Namen, jung gestorben, weit weg wohl von Heimat - 1945 - also doch noch von vor 1950, fast überwachsen. Zwangsarbeiter vermutlich, die sonst eher namenlosen Opfer von Onkel Rudis prächtigem Heldentum, die hier zugrunde gingen; erstaunlich, daß sie auf dem Friedhof Platz fanden, natürlich nur nahe der Mauer, und nicht irgendwo verscharrt waren. Nein, wohl doch keine Zwangsarbeiter: Raffael Smaczny 18.4.1923 - 6.6.1945, erst nach dem Krieg zu Tod gekommen, wo die Amerikaner die Gegend schon besetzt hielten. In gleicher Schrift auf gleichem Grabsteintyp auch deutsche Namen: Günther Debus 5.8.1929 - 17.5.1945, Heinz Sprint 15.9.1918 - 6.6.1945, am gleichen Tag gestorben wie Smaczny, einen Tag nach seiner, Philipps, Geburt - die Leute kamen nicht aus Röben. Was mochte sie in die Sackgasse hier, in welcher ihr Leben endete, verschlagen haben? Und dieser Hirka, mit gleichem Grabsteintyp und gleicher Schrift, schon am 25.3.1945 gestorben, Monate vor Kriegsende - wie paßte das zusammen? Rechts dieser seltsamen Gräbergruppe hörte die verfallene Klinkermauer auf, statt dessen nun, gespannt zwischen Betonpfählen, Maschendraht als Begrenzung. Der sich anschließende Friedhofsbereich schien neu angelegt, hier wuchsen zwischen den Gräberreihen niedrige Fichten, offenkundig erst kürzlich gepflanzt. Darunter Grabsteine von Ehepaaren, worauf sich zusätzlich der Name eines Sohnes befand - 'In Gottes Frieden / Elli Bernhard Lemme / In stillem Gedenken unseres lieben Sohnes / Günter Lemme 1926-1944' oder: 'Ruhestätte der Ehegatten Willi Kuhberg / In stillem Gedenken unseres lieben Sohnes Heinz 1825-1944'. Hier hatte der zweite Krieg auch für die im Dorf Geborenen Spuren hinterlassen. Welch absonderlicher Trick: War verboten, Grabsteine mit den Namen gefallener oder vermißter Soldaten aufzustellen? Hier landeten also die Helden - zumindest im Gedenken der Eltern wieder an Mutterbrust. Ansonsten waren sie in alle Welt verstreut, wie ihre Opfer, ohne daß freilich ihrer jemand mit Rührung gedachte. Weil sie Verbrechern bereitwillig folgten, selbst fast Verbrecher. Mitläufer nannte sie, wer ihre Verbrechen vergeben wollte. Aber die meisten waren keine Mitläufer, sie folgten zwar jemandem, aber aus freiem Willen mit Energie - sie waren Helden, diese Nazis, in den eigenen Augen und in denen ihrer Volksgenossen. Ohne mit der Wimper zu zucken, versuchten sie, russische Panzer mit bloßer Hand zu erwürgen. Das macht Heldentum aus. Das als Mitläufertum abtun, ist abwegig, Nazi-Deutschland verfügte über enorme Heldendichte pro Quadratmeter. Auch Richtung Klietzau bildete Maschendraht die Begrenzung, hier sah es bis hin zur Straße eher nach Brachland aus, an manchen Stellen ging die vergraste Fläche in sandige Erde über; besonders fruchtbar war der Boden hier ersichtlich nicht - die vor dem Harz liegende Magdeburger Börde, wo Wind und Gletscher diverser Eiszeiten die nördliche Ackerkrume konzentriert hatten, begann erst weiter südlich. Hier reichte es grad mal für Spargel. Ein paar niedrige Tannenreihen wirkten, an ihr lagen noch keine Gräber, irgendwie provisorisch, aus beinah prophylaktischen Gründen gepflanzt - bei der Anlage dieses Friedhofsbereichs wurde anscheinend noch einiges erwartet. Noch mehr Helden, die man begraben wollte? War der Krieg noch zu kurz? Oder war das Dorf früher größer, hatte es mehr Friedhofsfläche benötigt - na, nun wuchs hier jedenfalls Gras. Ewiges Gras.

So ein Heldentum hatte natürlich Schattenseiten, wie das meiste Heldentum - man ist Held nicht vor sich selbst, man ist es in Bezug auf andere, die Einen als Helden wahrnehmen. Daher beschwerte man sich auch nicht über das Schicksal der Hebräer oder der verhungernden russischen Kriegsgefangenen, dafür bekam man nämlich damals keinen Orden. Da hielt man den Mund. Da tuschelte man nicht einmal. Dann wäre man nämlich kein Held mehr gewesen, in den eigenen Augen nicht, dann wäre man allein gewesen und wurde nicht gefeiert, nein, nicht mal in den Augen der Freunde wär man dann ein Held. Und auf die kam es schließlich an. Ein Held tuschelt nicht. Man glaubte, rücksichtslos sein zu müssen, um als Teil dieses Volkes überleben zu können - weil alle rücksichtslos waren. Man glaubte an Sinn hinter dieser Rücksichtslosigkeit. Auch das nicht grade Mitläufertum. Auch nicht daß manche bis fast zum Schluß den Endsieg für möglich hielten, zum Einen weil sie nicht wußten, wie es um die objektive Überlegenheit der Alliierten wirklich bestellt war, zum anderen aber, weil sie offenbar bis zuletzt an die schlanken Wunderwaffen der Nazis glaubten als seien diese des Großen Ottos Heilige Lanze, die am Ende doch noch für einen guten Ausgang sorgen und die Barbaren aus Deutschland herauswerfen würde. Ein wahrer Held kann man aber leider nur werden, wenn die Gesellschaft, von der man Teil ist, einem hohen Ziel entgegenstrebt. Das Argument, man könne von den Menschen nicht erwarten, Helden zu sein, und man müsse ihnen deshalb vergeben, trifft die Deutschen nicht, weil es in Nazideutschland nur sehr wenige Mitläufer gab, nicht einmal in der sogenannten Etappe, wo man die fürchterlichsten Verbrechen beging. Gerade in Unmenschlichkeit entfaltete sich dort das Heldentum; als hätten diejenigen, die sich - wie zu Auschwitz der heldenhafte Herr Höß, der seine Aufgabe als allergrausamste Pflichterfüllung beschrieb - darin verstrickten, nur in ihrer Unmenschlichkeit eine Chance gesehen, sich an diesem völkischen Aufbruch ins Ungeheure zu beteiligen. Statt von der Banalität des Bösen müßte man von einer Banalität des Heldentums sprechen.

Selbstverständlich gab es auch Mitläufer, Jünger zum Beispiel, den man sogar einen 'Mit-Reiter' nennen könnte, nach dem Photo, worauf man ihn zu Pferd seiner Kompanie voran ins bereits besetzte Frankreich reiten sieht. Nein, da war er kein kleiner Leutnant mehr, wie noch im ersten Krieg, jetzt war er schon Hauptmann, purer Etappenhengst, wie es damals hieß, richtig harmlos war er deshalb nicht: Es stellte sich nämlich heraus, daß man sich in so einem totalitären Staat dann doch irgendwie als Held beweisen muß, daß man sich jedenfalls nicht einfach durchmogeln konnte. Wie soll so ein anständiger Hauptmann-Schriftsteller reagieren, wenn man ihn auffordert, als Zensor zu arbeiten, schließlich verstünde er doch was von Buchstaben? Wenn Einem der Auftrag erteilt wird, Briefe, welche zwischen Soldaten und ihren Angehörigen hin- und hergingen, auf Subversives zu untersuchen, das man den entsprechenden Stellen dann melden mußte? So einen Auftrag ablehnen? Unmöglich. Selbst nicht, wenn Einem ein Vorgesetzter klar macht, gleich zu Beginn, daß auf Grund bisheriger Erfahrung unter tausend Briefen stets eine Zahl X derart Subversives enthielte, mit äußerst geringen Schwankungen, da gälten die unbestechlichen Gesetze der Statistik uneingeschränkt. Und er verstehe ja, daß der Herr Hauptmann am liebsten niemanden melden wolle, aber für solche Sentimentalität sei jetzt nicht die Zeit, das deutsche Volk kämpfe schließlich um sein, ja, ja: Überleben! Er könne daher nicht mit dem geringsten Verständnis rechnen, wenn er weniger als diese X Promille zur Kenntnis der betreffenden Stellen brächte - all das von jenem peinlich direkten Gegenüber im allerhöflichsten Konjunktiv übermittelt, von Grund auf und ohne doppelten Boden korrekt, ein wenig überkorrekt beinahe, woran es sogar in grammatikalischer Hinsicht, ein Mann von Bildung, nichts auszusetzen gab. Tja, dann war man geleckt mit seinem Nur-Mitreitertum, da wurde man dann doch wider Willen zum Helden. Ein für vor allem diejenigen leider, die man mit unziemlichen Äußerungen erwischte, hochgefährlicher Auftrag - auf Hitlerwitze stand nicht selten die Todesstrafe.

Und so hat dieser Hauptmann dann (wie der ebenfalls als Hitler-Gegner geltende General von Rundstedt, als er die am 20.Juli beteiligten Offiziere als Vorsitzender eines Ehrengerichts aus der Wehrmacht ausstieß, um sie dem Volksgerichtshof zu übergeben) widerwillig seine Pflicht erfüllt, irgendwie, all das steht in seinen Memoiren, auch, wie raffiniert er es anstellte: er erfüllte die Quote X, indem er den strafenden Stellen gehäuft nämlich zur Kenntnis brachte, wenn Soldaten und ihre Geliebten oder Ehefrauen sexuell Anzügliches austauschten; politisch Anstößiges wie Hitlerwitze oder verlorenen Glauben an den Endsieg habe er hingegen nur gelegentlich mitgeteilt, obwohl auch das ab und an sein mußte, schließlich gab es da gleichfalls eine Statistik. Und so hat er sich ganz guten Gewissens durch diese ansonsten doch ganz interessante Zeit - schließlich verkehrten richtige Generäle mit ihm und er tat es mit französischen Schriftstellern - in Paris gemogelt. Die Schlauheit dahinter hat etwas Bestechendes, gerade wenn man in Betracht zieht, daß Jüngers Aufzeichnungen erst nach dem Krieg erschienen, in selbstverständlich überarbeiteter Form: ihr Autor hatte Zeit zu überlegen, was er da eigentlich schrieb. Es muß für die Betroffenen ja ein Vergnügen gewesen sein, auf Grund solcher Anzeige verhaftet oder gar erschossen zu werden: weil man (wie Joyce in seiner herzzerreißenden Korrespondenz mit Nora Barnacle, worin sie versuchten, einander mit Hilfe dieser zum Teil noch erhaltenen "dirty letters" über viele Tausend Kilometer nah zu bleiben) seiner Ehefrau etwa schrieb, daß man sie gern mal wieder - sie hätte das doch dann und wann gern gemocht - in den Arsch ficken würde. Philipp war die Selbstverständlichkeit, mit der Einer wie Jünger annahm, so etwas verdiente eher bestraft zu werden als ein Hitlerwitz, ein wenig unheimlich. Gerade diese Findigkeit hielt er für widerlich, schien sie doch nur zu gut zu einer Grundhaltung zu passen, die beklagte, daß aufgrund des verlorenen zweiten Weltkrieges nun auch in Deutschland Bücher gedruckt wurden, in denen "obszöne Wörter" im Klartext stehen. Tja, so wurde dieser widerwillig Mitlaufende dann doch noch zum Helden, in den eigenen Augen und ein wenig sogar denen seiner Vorgesetzten, zumal sie sich im Falle von Joyce angesichts der zahllosen Kommafehler der Nora Barnacle, sie wußte offenbar nicht mal was ein Punkt ist, noch gemeinsam hätten einen abwichsen können. Besser ging es gar nicht. Wie gut die Details immer zusammenpaßten. Bei ihm, Philipp, paßte dagegen so gut wie nichts. Na, immerhin war Jünger nicht auch noch zum General geworden, anders als Gorki oder auch Brecht, das hielt den in Philipp aufwallenden Zorn in Grenzen, er nahm Jünger ab, daß er Hitler von Grund auf nicht mochte. Philipps liebenswürdige Großmutter tat dies ebensowenig, und auch sie sagte das nicht einfach so hin: sie hatte auf dem kleinen Hof mit ihren Kindern in der Tat anderes zu tun, als sich um das Heldentum der Deutschen zu kümmern; ihr Sohn Rudolf dachte da freilich schon anders. Dafür war Onkel Harri bei Kriegsende erst zehn, Liebling zwar nicht der Welt aber immerhin seiner Mutter, und konnte sich nach der Niederlage schon einen eigenen Reim auf das gerade Vergangene machen. Da gab es schließlich keine Orden mehr. Frauen zählten in politischer Hinsicht auf dem Land nicht - sie wollten sich nur einen Mann krallen. Nicht einmal erleben wollten die meisten vorher was. Philipps Mutter war die Ausnahme: man schickte sie zu einem zu Vermögen gekommenen Onkel nach Berlin, wo sie die Mittelschule absolvierte. Die da gewonnenen Kenntnisse brachten sie immerhin ins Büro, das war damals allerdings gleich das Militär-Büro, dort traf sie, in jenem Bad Freienwalde, den Vater: So gesehen sogar ein Happy-End, der Krieg hätte schlimmer für sie ausgehen können - aus deren beider Fleisch Du mich eingeführt hast in dieses Leben, heißt es in den "Confessiones" an der Stelle, wo die Namen von Augustinus Eltern zum einzigen Mal erwähnt sind: "quemadmodum nescio" - auf welche Weise, weiß ich nicht. Ein Österreicher - Bemerkenswertes kam nach dem ersten Krieg fast stets aus Österreich, im Guten wie im Schlechten: Kafka, Musil, Broch, Hitler und sein Vater. Hätte aus ihm, Philipp, in diesem Dorf auch so Einer werden können wie Onkel Rudi? Zweifellos. Nichts hätte ihn schützen können, nichts hier ihn davor bewahren. Nicht Mutterliebe, nicht der Glaube an den Sozialismus, der Einen in eine andere Art von sich aufgebenden Wahn zerren wollte, und nicht die Ilias. Höchstens - wie es der arme Cézanne so hilflos ausdrückte - die Kirche. Die Banalität, wenn man so will, des Guten. Aber Kirche gab es hier ja nicht mehr. Eigentlich gab es sie nirgends mehr.

Zwischen neuen Gräbern jetzt ein Wasserhahn, an einem primitiv aus dem Boden ragenden Rohr, es wurde also gelegentlich gegossen. Von wem? - 'Karl und Hanna Piethe', 'Luise Rusdig', die Namen sagten ihm nichts. Statt Kirche gab es nunmehr das Fernsehen - na, immerhin. Und warum war es alles geschehen, warum waren die Deutschen diesem Hitler hinterhergelaufen? Die Antwort schien Philipp hier auf diesem Dorffriedhof plötzlich nicht einmal besonders schwer: weil sie nach der Niederlage des ersten Krieges wieder als Helden dastehen wollten. Weil der gewöhnliche Deutsche - von jemandem wie Jünger vielleicht einmal abgesehen - einfach heldenhaft ist, seiner Natur nach, und schon immer, nicht erst seit Tacitus sein zielloses Heldentum großtönig beschrieb. Und hier lagen sie nun, diese Helden: 'Willi Kühne', 'Karl Krone', 'Willibald Mennig' - jetzt lagen sie endlich in Frieden und nicht mehr ganz so heldenhaft neben ihren jeweiligen Frauen: 'Ruhestätte der Ehegatten Georg u. Maria Meier', 'Ruhe sanft / Ruhestätte der Eheleute August Kaul', 'Ruhestätte unserer Lieben / Karl Kaul 1900-1947' - In meinem Alter gestorben, rechnete Philipp aus. Ja, der Deutsche ist seiner Natur nach ein Held. Aber auch der Engländer ist es, der Franzose, der Russe, der Italiener und selbstverständlich der Hunne. Sie alle warten auf ihre Chance. Es gehört zum Menschsein, zum Mann-Sein, diese unwiderstehliche Kombination von unerhörtem Wagemut und extremer Kurzsichtigkeit, die nicht nur seinen Onkel Rudi auszeichnete. Der Mensch ist Held seiner Veranlagung nach. Er möchte jedenfalls von seinen Mitmenschen als ein solcher gesehen werden und ist bereit, einiges dafür zu tun. Dann bekam man Orden, die das den anderen vermitteln. Aber genau das war der Grund auch für moralische Feigheit: für moralisches und gegen den Staat gerichtetes Heldentum gibt es nämlich keine Orden. Oder nur sehr viel später, wenn dieser Staat zu Grund geht, und das muß man erst mal erkennen. Da griff nur noch die Banalität des Guten, die meist aus ähnlich beschränkten Verhältnissen hervorgeht, wie die des Bösen. Überraschen uns nicht am Guten seine überaus bescheidenen Behausungen? Sie laden zu Spott ein, weil wir die Paläste des Bösen, selbst die in ihrer Aufgeblasenheit häßlichen Bauten eines Albert Speer, ihnen schon in ästhetischer Hinsicht heillos überlegen wähnen. Da guckt so ein Möchtegern-Held - im Fall der Juden zum Beispiel - lieber mal weg. Irritierend waren bloß die Orden, die sich manche dieser Juden - Rudolf Borchardt gehörte dazu - im ersten Krieg erkämpft hatten. Die paßten nicht so recht ins selbstgezimmert heldische Gefüge.

***

'Ruhestätte der Ehegatten Willibald Männig', 'Ruhestätte der Ehegatten Wilhelm Danker', 'Ruhestätte der Ehegatten Elise Wilhelm Polte' - Philipp erkannte die Namen, die ihm während seiner Fahrt durchs Dorf schon vertraut in den Ohren klangen: 'Berta Zimper geb. Bremer 1882-1966', 'Hier ruht meine liebe Frau Anna Lemme geb. Helbl' - Frauengräber. 'Ruhestätte der Ehegatten Karl Emma Börnicke', las er, und: 'In Gottes Frieden Albert Windelband 1881-1952 Luise Windelband 1884-1960', und auf einer an diesen Grabstein gelehnten Platte: 'Ruth Schulze geb.Windelband 1901-1963'. Ha, hier würde selbst ein Mommsen kaum auf die Idee kommen, auf Grund von Grabinschriften eine verbesserte Geschichte der Deutschen zu schreiben, wie er es mit der römischen der Provinzen zwischen Caesar und Diocletian mit einigem Erfolg tat. Manche Familiennamen wiederholten sich, so an die zehn Familien, denen der Röbener Friedhof im Grunde gehörte: 'Unsere Ruhestätte Luise Gustav Bornemann geb. Zimper 1892-1960, 1886-1965', 'Ruhestätte der Eheleute Albert Zimper', 'Ruhestätte der Ehegatten Albert Margarete Bornemann', dazu unterhalb einer in den Stein gravierten goldenen Blume: 'Ruhestätte der Ehegatten Hedwig Karl Zöllner', daneben die 'Ruhestätte Alwine Arthur Windelband' und unter einem eingravierten Rosenzweig: 'Eheleute Alfred Marianne Laue 1913-1986, 1920-1989'. Und dann fand Philipp jenen Otto Windelband, den er aus den Erzählungen seiner Familie kannte: 'In Gottes Frieden Otto Windelband 1893-1954 Luise Windelband geb.Gräben 1897-1975 / Wer in den Herzen seiner Lieben lebt, der ist nicht gestorben.' Nicht weit davon der ihm ebenfalls bekannte Fred Schmuhts: 'Ruhestätte der Ehegatten Fred Elisabeth Schmuhts' - hier waren nicht nur die Familiennamen vertraut, sondern sogar die Vornamen - hier befanden sie sich also jetzt, die Helden der Erzählungen seiner Großeltern und ihrer Kinder von den Familiengeburtstagen: Otto Windelband, Fred Schmuhts, Karl Zöllner, und da 'Ida Lemme geb. Jerchow' - für ihn hatten die hier ruhenden Personen als Kind einen Pantheon gebildet, der aus Namen bestand, mit denen er nie ein Gesicht verbunden hatte. In den Erzählungen Helden, ohne daß sie etwas Großartiges vollbrachten. Die Wiederholung tat es! Wie in allem gelang es der Wiederholung. Man brauchte ja gar nicht Rußland zu erobern, um es zum Helden zu bringen. Hier im Dorf brachte man es ohne das - sogar zum Gott! Ja, gesichtslos gleich Göttern waren die Menschen, die man hier begrub - nie hatte Philipp ihre Handlungen verstanden. Auf geradezu perfekte Weise blieb unverständlich, was er den schnatternden Mündern seiner Verwandten zu entnehmen vermochte - wie man auch das Handeln der Götter nie recht verstand. Die Dorfgötter! Vom Rest der Welt nie wahrgenommene Gestalten - und nahm man sie von außen doch einmal wahr, dann nur als plumpe Haufen von Menschen, die kaum zu gehen imstande waren. Mit aus unliterarischen Mündern beschwörend hervorgebollerten Namen - Otto Windelband: aus dem Fenster hat er geguckt! Dieser Namensvetter nicht allein von Otto dem Ersten, dem Liebling der Welt, sondern auch gleich noch dem Zweiten und Dritten, und "He, Fred!" hat er gerufen! Und Säcke trugen sie, diese Götter, und irgendwelche Bündel mit darin eingewickelten Schinken und Würsten, manchmal waren auch kleine Kinder wie Philipp darin eingewickelt; irgendwie war es immer illegal und daher mußte die Polizei - sie rekrutierte sich gleichfalls aus diesen Familien - beschwindelt werden: "Ich hab nichts gesehen!" griente Otto Windelband! So tönte es an jedem jener Geburtstage aus Philipps Kindheit. Durch nichts sonst hatten diese Götter sich hervorgetan, nichts, was sonst erinnernswert wäre, nicht die Spur einer Heiligen Lanze, nur an diesem plumpen Beschummeln waren sie beteiligt, an irgendwelchen kleineren Schweinereien, aus denen das Leben hier und wohl überall bestand. Sie hatten verbotenerweise Säcke geschleppt, in der Nacht, von irgendeinem Schiff in irgendein Haus, das war das Universum der Schiffer, eine Welt von Wegen, die irgendwohin führten, die zu Einem nach Haus führten, der Kosmos, in dem man sich hervortun konnte. Und hier lag der Himmel der Götter, genau hier.

Auf einigen Grabsteine statt des Kreuzes ein Anker, daraus sprach ein eigenwilliger Stolz; 'Schiffer' stand auf manchen nicht weniger stolz, auch 'Schiffsführer', 'Steuermann', 'Schiffahrtsinspektor', für ihre Umgebung Berge von Männern. Auch den Namen Heinrich Brunos hatte Philipp nicht vergessen, bei der Reederei in Hamburg betreute er das Schiff seines Großvaters, er lag jetzt also ebenfalls auf diesem Friedhof, einst Angestellter der Reederei 'Oskar Wanckel' in der Grönigerstraße, gleich neben der Katharinenkirche, deren auf der Tangermünder Hauptkirche nachgebauter Turm in Philipp vorhin so warmen Anklang ausgelöst hatte. Ja, dies war ein Schifferdorf, nicht nur die Länge der Uferbefestigung mit den rostenden Eisenringen sprach davon, auch diese mit Ankern gravierten Grabsteine. Ja, unter den Bauern und Handwerkern und was sonst an Ungegürteten in so einem Dorf hauste, gab es hier Schifferfamilien, irgendwie lebten sie alle zusammen. Was bedeutete so ein Anker anstelle des Kreuzes? War dies ein konfessionsloser Friedhof? Unter einem solchen Anker: 'Schröder Alma 1898-1981 Gustav 1893-1984 / Zum Gedenken Sohn Gustav 1918 vermißt 1943' - ein weiterer dieser Helden, auch er nun von Wacholderbüschen gerahmt. Und nun, gleichfalls unter so einem Anker, ganz eigentümlich: 'Ruhestätte der Eheleute Albert Friederike Kuhberg / Schiffseigner 1893, 1893-1982' - nur die Frau bislang gestorben, der 1893 zur Welt gekommene Mann, obschon die Berufsangabe auf ihn sich bezieht, noch am Leben oder irgendwo anders begraben. Wie weit müssen Gräber von Wohnhäusern entfernt sein - 100, 50, 36 Meter? Und wer pflegte hier in welchem Ausmaß, wer bezahlte? Immerhin gab es einen Zaun drum herum, obwohl Maschendraht, wie der dort hinten, in der DDR Mangelware gewesen sein muß. Philipp mochte noch immer kaum glauben, daß sich das dröhnende Gestammel seiner Familie hier in Wirklichkeit verwandelte, bislang hatte er es als dem Nonsens Verwandtes abgetan. Sein langsames Hindurchgehen verwandelte es nun in eine Art Ballett - ja: eins für Grabsteine, ließe sich sagen, ein Ballett ohne erkennbaren Zusammenhang, die steingewordene Illustration des endlos dörflichen Gestammels, das ihn sein Leben lang begleitet hatte. Immer bewegter las er sich durch diese Namen und entdeckte nun auch einen verwitterten Grabstein von vor dem zweiten Weltkrieg, gleich neben einem breiten schwarzen mit eingraviertem Kreuz, der ihm das Herz heftiger schlagen ließ - links unter dem Kreuz las er: 'Hier ruht in Gott Anna Schüler 1871- 1963'. Und rechts daneben: 'Mein lieber Mann, unser guter Vater und Großvater Gustav Schüler / Schiffahrtsinspektor 1864 bis 1937. / Wie du gearbeitet u. gestrebt, so lebst Du in uns weiter.' - Schüler: der Familienname seiner Mutter. Wer könnte dieser 1937 gestorbene Gustav Schüler gewesen sein - der Vater seines Großvaters? Ein Bruder? Von so einem Bruder hatte er nie vernommen, und einer hier lebenden Tante Anna schon gar nicht - dennoch schien irgendein Gustav, der dies oder das gesagt hatte, auf einmal vertraut. Und dann entdeckte er eine Frage auf einem Stein: 'Warum?' und etwas weiter wieder: 'Warum?' Ja, was sonst in dieser sterblichen Welt. Die nun, da wir erwachsen genannt werden, unser geworden ist - und nun geriet er an eine ganze Gruppe dieser fragenden Warums, deren Geburts- und Sterbedaten verrieten, daß es sich um Kinder handeln mußte; nur ein, zwei Jahre alt, für sie war eine Extraregion des Friedhofs reserviert: unfertige Menschen, die nie auswuchsen, nie Teil des großen Götterzuges warden, von dem das große Gestammel sang. Die Zwerge lagen, wie sonderbar, namenlos ein wenig zur Seite. Warum? Warum? fragten die erschütterten Eltern: "Unsere Sonne - warum?"

Ja, wie war das nun mit van Gogh, der es gewagt hatte, die Sonne zu malen, und der Freiheit? Ganz einfach: es gab sie für ihn nicht. Nach seinem desperaten Haager Versuch, sich mit Sien Hoornik und ihren vier unehelichen Kindern auf halbwegs konventionelle Weise in einem eheähnlichen Zusammensein zu stabilisieren, die er 'schön' fand, weil sie 'häßlich' und 'verblüht' wie ein gepflügter Acker war - so van Gogh damals mit dreißig - bestand diese Freiheit für ihn kaum mehr, danach wurde er, unterstützt allein von den mageren, zuverlässigen Zuwendungen seines ebenfalls fast unbemittelten Bruders Theo, nur noch getrieben: Paris, Arles, St.Remy, Auvers - sein Leben verwandelte sich in einen fast natürlich zu nennenden langen Fall, den auch seine Flucht zurück in die Nüchternheit des Nordens nicht hatte aufhalten können. Ein Fall nicht in die Sünde, wie das vom Heiligen Augustinus entworfene Menschenbild es uns nahelegt, sondern - in die Kunst. In Arles versuchte van Gogh offenbar noch, als eine Art Mönch zu leben, der 'alle vierzehn Tage einmal ins Bordell geht' - in Künstlerkreisen galt solcher Satz damals als fesch. Bildete Kunst tatsächlich eine moderne Alternative zur Sünde, ist man auf dem Weg zu ihr gleichfalls nur selten frei; van Gogh war es gewiß nicht - Ach, dieses gespenstische Ohr, das er schließlich in sein Bordell hatte tragen müssen (das ja auch von einem Cézanne hätte frequentiert werden können). Als einzigen Akt der Freiheit im Leben van Goghs, den hielt er allerdings für begnadet, empfand Philipp, daß man die beiden Brüder, das war sicher nicht mehr Ausdruck einer Notwendigkeit, nach ihrem Tode so rührend nebeneinander bestattetea. Ja, einzig wenn interessierende Erwachsene wie diese Gebrüder daraus hervorgehen, wird so eine Kindheit fürs Außen interessant - Ha: Fall, wenn du willst, erst einmal mußt du dich aber heben. Daher ist im 'Normalfall' geradezu dumm, eine Biographie orthodox von vorn zu erzählen, nur bei Menschen, die ihre Freiheit verloren, macht dies Sinn, weil sich in deren Leben tatsächlich so etwas wie Kausalität verbirgt oder verbergen kann. Hier lagen jedoch Kinder ohne daraus gewachsene Erwachsenheit: eine Sondergruppe, deren Gräber (ähnlich wie in der commedia, wo sie als Ungetaufte bei den liebenswerteren unter den griechisch-römischen Philosophen und Dichtern im Limbus ruhen) von der dörflichen Gemeinschaft abgetrennt waren. Sie konnten nicht zu Göttern werden, auch durch das dörfliche Gestammel nicht. Aber das brauchten sie auch nicht, nach Ansicht der Eltern waren sie bereits Götter: 'Unsere Sonne', 'Morgenröte', 'Die heilige Natur', so hießen sie - so jemand war er, Philipp, hier in diesem Dorf gleichfalls einmal gewesen. Auf der sauren, hier sogar sandigen Oberfläche dieser Erde. Warum blieben die Gräber der Kleinen namenlos? Ein Echo auf die Zeit, wo das Grauenhafte nur als Allegorie behandelt werden durfte? Was war das für eine entsetzliche Sitte? Morgenröte - 'crépuscule du matin' - das erste Wort, das er von Baudelaire verstand, und: 'bouche ouverte' - mit offenem Mund. Wieder Grabsteine mit Ankern: Schiffer. Beim Lesen ihrer Namen schien sich das dörfliche Gestammel in seinem Kopf auszuweiten, vielleicht vervollständigte es sich, auch sie wurden nun Teil davon, auch solche, die er bislang nie vernommen hatte, sogar die paßten auf einmal perfekt: Karl Schmuhts zum Beispiel; und nahm nicht auch ein Willi Windelband irgendwann einmal das Schlachtermesser - oder zog er sich damals, in diesem wichtigen Moment, nur lässig die Jacke aus? Und dann kamen die Russen und all das, da ging die große Zeit des Stammelns allmählich zu Ende. Ja, und die große Zeit der europäischen Kunst, die sich in van Gogh, Cézanne und Monet einen letzten Dur-Akkord gönnte: mit den breiten, dem Menschen beinah objektiv keinen Platz mehr lassenden Landschaften van Goghs - Himmel über Kornfeld - als Oberton, der trompetenartig nach Ausdruck schrie, der Ausdruck sein wollte; und den nur von Menschen wahrnehmbaren, den nur für sie bestimmten komplexen Reflexionen der Seerosenbilder Monets als Grundton, der, leicht kitschig und voller verführerischer Oberschwingungen, worin man alles und jedes erkennen mochte, das wohl Äußerste repräsentiert, was man als Mensch einer so unzuverlässigen Geliebten wie der Natur mit bloßem Auge abgewinnen kann. Ja, Seerosen, keine dornenbewehrten Wildrosen, die Einen auch stechen können. Dazwischen die Badenden Cézannes, in welchen sich die heitere Tonalität dieses Akkordes manifestiert: sie stehen auf der Erde, mitunter noch im Wasser, und strecken sich nach Himmel. Doch dieser heitere, der Natur abgerungene, mit ihr in Übereinstimmung zu sein sich bemühende Akkord war verklungen: van Gogh wurde in einen wirren Expressionismus verwandelt; Cézanne in einen biederen Kubismus, der unter Gelächter den Inbegriff von Weiblichkeit in der Gitarre erkennen wollte und letztendlich wohl, wie so vieles in diesem Jahrhundert, das Skelett verherrlichte; und Monets riesige Großaufnahmen, aus denen die Seerosen bestehen, sagten wiederum dem (von Philipp in der modernen Malerei am meisten geschätzten) radikalen abstrakten Expressionismus im praktischen Amerika - die wohl erstaunlichste Transformation - daß es sehr viel Raum und dick aufgetragene Farbe braucht, um eine malerische Idee zu entwickeln, die keine Illusion von Raumtiefe beinhaltet. Schon während seines Erklingens hatte sich dieser Akkord in Dissonanz verwandelt, war er erstorben, als Leiche brauchbar nur noch für die minderen Künste, für Literatur, Photographie und Film, die ihre Wahrheit weiterhin - wie einst die Impressionisten - an Wirklichkeit reiben müssen. Auf seltsame Weise spiegeln sich in diesem Akkord aber auch die Lebensalter der ihn hervorbringenden Künstler: van Gogh starb achtunddreißigjährig, ein noch junger Mann voll dumpfer Wut, lange bevor er die verwirrte Reife des mit sechsundsechzig gestorbenen Cézanne auch nur zu streifen wußte, der wiederum von dem im gleichen Jahr geborenen Monet um weitere 25 Jahre überlebt wurde - es erwies sich, daß die etwa 25 Jahre, die jeder den anderen überlebte, nicht umsonst gelebt waren. So groß van Gogh auch als Künstler war, fähiger als jedermann sonst zur trompetenden Melodie, zu einem drastisch graphischen Sich-vorwärts-Bohren, das Beispiel Monets macht Einem klar, mehr noch als das Cézannes, daß er in seinem Unglück nicht zu Meisterschaft fand. Trotz seines zeichnerisch virtuosen Bohrens, das am Ende in jedem seiner Gemälde die Oberfläche der Wirklichkeit durchdrang, aber es mangelte ihm nicht nur, so muß man wohl sagen, an Solidität des handwerklichen Könnens, auf die könnte man pfeifen, es fehlte ihm - trotz der gewaltigen in seinen Bildern auftauchenden Horizonte - an Perspektive, in der er sein Werk entwickeln konnte, es fehlte ihm an entschiedenen Weitblick. Bei Monet begegnen wir, vor allem, wenn wir den Gedanken an das irrational Heilige an Licht und Natur noch eine Weile lebendig halten wollen, dagegen einer Welt, die man sogar genießen kann, mehr als bloß einer Sichtweise; ihr ist Vielfalt und Weite zu eigen, und, wahnsinniger und unglaubwürdiger vielleicht noch: etwas von jenem Frieden, den, wie manche meinen, eine Welt, auch wenn Einem darin nicht nur der Süden den Kopf verbrennen kann, doch haben sollte. Leider schert die Welt einen Dreck, wie sie unserer Ansicht nach sein sollte, weder die Welt noch die Kunst sind so beschaffen, daß wirklich zählt, was wir, die vielen, momentan davon halten oder halten wollen. Ja, selbst die Kunst, und das läßt ihr etwas maßlos Trauriges innewohnen, darf sich darum nicht besonders kümmern.

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Mit diesem heiteren Akkord (dessen Moll-Variante sich ergibt, wenn man Cézannes 'baigneurs' und 'baigneuses' durch Gauguins tahitische oder auf den Marquesas gemalte Frauengruppen ersetzt) endete, was wohl mit dem Heiligen Franziskus begann, der vor Assisi den Bäumen, Blumen und Vögeln predigte, als wären sie vernunftbegabte Wesen, den Saatfelder, Weinberge, Steine und Wälder, rieselnde Quellen und das Grün der Gärten an die Liebe Gottes erinnerten, der alle Geschöpfe als 'Bruder' anredete und im Aufgehen in der Natur die wahre Bestimmung des Menschen sah und dem das biblische 'Machet euch die Erde untertan' nur unter dem Zeichen der Liebe galt, weshalb er seinen schnell zahlreich werdenden Anhängern nahelegte, das um die Gärten herumwuchernde Unkraut nicht zu jäten und Bäume nicht an den Wurzeln auszuhauen, damit sie wieder ausschlagen - Ausdruck eines Naturverhältnisses, dessen Weltbejahung in der Geschichte der Christenheit einzigartig dasteht, von Waldes oder Dominikus, seinen Zeitgenossen, sind nicht einmal Tiergeschichten überliefert. Im franziskanischen Denken lag die Wurzel dessen, was sich in künstlerische Auseinandersetzung mit der Natur verwandeln sollte, bis hin zu Monet bildete eine pantheistische Komponente den Kern, auch bei dem Dreieinigen Gott kaum noch Verpflichteten, womit man jede Nuance der sogenannten Natur wahrzunehmen und im Geist Einem begegnender Göttlichkeit zu umarmen suchte. Der Glaube, ein solches Umarmen führe zu einem glücklichen Ende, war Voraussetzung dieser Annäherung - und genau damit ist es nun vorbei.

Seine grenzenlose Hochachtung vor der von Gottes Geschöpfen bewohnten Natur war dem Heiligen Franziskus indes nicht natürlich zugefallen. Mit ihr rettete er sich aus einem Zustand apathischer Verrücktheit, in den er als wohlhabender, dem Leben zugewandter, übermütiger Bürgerssohn fiel und in dem er sich so klein vorkam, daß verglichen damit selbst ein Wurm Respekt verdiente. Nachdem niemand ihm aus seiner heute wohl klinisch zu nennenden Apathie herauszuhelfen vermochte, fühlte er sich eines Tages, vor einem Kruzifix meditierend, von Christus direkt angesprochen, der ihm - Beginn seiner Bekehrung - mit dem Auftrag zur universellen Verkündigung des Evangeliums neuen Lebenssinn bescherte. Vielleicht blieb seine Liebe zur Natur deshalb auf naive Weise christozentristisch, indem er etwa, da eine Prophezeiung der Psalmen Christus mit einem Wurm vergleicht, Würmern gegenüber zärtliche Gefühle entwickelte und sie auf der Straße aufsammelte, um sie vor unbedachten Tritten zu schützen - eine aus den im naiven Wortsinn verstandenen Metaphern des Evangeliums herausdestillierte Liebe, die genau genommen nicht von der Natur, gewiß jedenfalls nicht von ihrer dumpfen Stummheit, ausgeht, sondern den plappernden Buchstaben der christlichen Überlieferung, denen durch aktive Liebe zu mehr Lebendigkeit verholfen wird. Auch wo bisher nur dem Heiligen Franziskus gefällige, unkrautdurchwucherte Wildnis wahrnehmbar war, bemerkte Philipp nun umgefallene Grabsteine, die darauf aufmerksam machten, daß auch die Natur sich ihr bißchen Frieden erst erkämpfen muß: 'Hier ruht in Gott mein lieber Mann, unser guter Vater u. Schwiegervater der Steuermann Ferdinand Brusche 1866-1917' - bislang das älteste Grab. Daneben ein noch älteres, leider nicht mit Schiffahrt verbunden: 'Hier ruhen in Gott / Joh.Christ.Kühle 1829-1885 / Elisabeth Kühle geb.Görtz 1826-1907 / Ihren lieben Eltern die dankbaren Kinder' - wohl Vorfahren der Familie, der das neben dem Haus seiner Großmutter gelegene Feld gehörte. Bei anderen die Schrift nicht zu entziffern, 1950 erwies sich weiterhin oft als magische Grenze. Wieso? Waren die Steinhauer des 1000-jährigen Reich handwerklich zu ungeschickt, den Namen ihrer heldisch gestimmten Toten zu Ewigkeit zu verhelfen? Oder gab es doch eine Direktive der hier kürzlich herrschenden Partei, alle Grabsteine vor einem bestimmten Stichtag umzustoßen, in einer Nacht- und Nebelaktion, und mit Säure zu verätzen? Oder wurden sie ganz simpel wiederbenutzt? Auf manchen neueren Grabsteinen rückseitig Inschriftenreste - in Form von taktlosem Recycling? War das üblich oder nur eine hiesige Eigenart? Und wer pflegte überhaupt, nachdem so viele in den Westen verschwanden? Friedhofsbrigaden, die es reihum betrieben, mit, wie in der Landwirtschaft, zentraler Verwaltung? Gab es derlei Brigaden, schien niemand ihre Arbeit besonders überprüft zu haben - ach, auch hier war es ganz schön. Hier offenbarten sich Genealogien, die Fontane in seinen Wanderungen durchs Mark Brandenburgs nicht beschrieb. Die von Moltkes, von Rundstedts, von Rademins und von Bülows hatten in diesem Dorf nichts zu bestellen.

Obwohl Gelehrte, die zu ihm kamen, ihr Wissen an der Klosterpforte zurückzulassen hatten und er der Wissenschaft gegenüber ein Mißtrauen hegte, das sich nur noch von seinem Argwohn gegenüber Reichtum übertreffen ließ, versperrte sich der Heilige Franziskus nicht, wie nahegelegen hätte, vor der Gelehrsamkeit - selbst heidnische Schriften akzeptierte er und solche, worin, Zeitgenossen bemerkten es perplex, 'nicht einmal der Name Gottes stand'; und zwar, wie er sagte: "weil in ihnen die Buchstaben vorkommen, aus denen man den glorwürdigsten Namen des Herrn, unseres Gottes zusammensetzen kann." Auch meinte er, die in solcherlei Schriften auffindbaren Qualitäten wären das Eigentum weder von Heiden noch Christen, sondern sie gehörten Gott allein, dem jegliches Gute zu eigen sei. Jede Denkanstrengung wurde für ihn so Teil der göttlichen Natur, an welcher man sich nicht nur zu erfreuen vermag, sondern an welcher man sich freuen muß - in dieser Einsicht bestand vielleicht die großartigste seiner Leistungen, eine, der sich Philipp bedenkenlos und, selbst jetzt noch, in seinem Fall, bedingungslos anschloß. - "Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig", erläuterte der Heilige Franziskus bibelfest den Zusammenhang - nicht zuletzt darin vermochte Philipp sich zu erkennen, in diesem vibrierenden Schwanken zwischen Sinn und Unsinn, der das Denken im Moment seines Entstehens charakterisiert; in diesem kaum erkennbaren winzigen Moment, darin man einer ohne den Menschen von Grund auf ratlosen Welt einen möglichen Weg in die Zukunft öffnet, in eigentlich wirrem Entschluß, schon indem man ihn mutig beschreitet; in dieser von innen kommenden Aufregung, die sich Einem - wie an der vorbeifließenden Elbe - von Sekunde zu Sekunde bietet und in der man die Welt wie Gott in den ersten Sieben Tagen immer wieder neu zu erschaffen weiß - freilich nur solange das Denken lebt und sich noch nicht in Buchstabenform festgelegt hat. Natürlich kam es beim Heiligen Franz, die seiner Heiligkeit vorangegangene Verrücktheit überwand er nie recht, zu seltsamen Verrenkungen. - "Und der Herr hat mir gesagt, er wolle, daß ich ein neuer Narr sei in der Welt", schloß er daraus und schaffte es so, seine weiterhin gestörte Sicht der Welt mit dem allerernstesten Auftrag, das Gebäude der Kirche neu zu errichten, zu versöhnen. Daß er sich bei der Meditation vor einem großen bemalten Kreuz, einem großäugigen Cristus triumphans mit aus dem Holz samt der Aureole räumlich herausgearbeiteten Kopf, in San Damiano vor den Toren Assisis, mehrmals von Christus persönlich angesprochen fühlte und Aufträge von ihm empfing, sollte - so fragwürdig eine derart direkte Ansprache heutigen Ohren klingt - erstaunliche Folgen haben, gerade für die Bildkunst. Grenzt nicht ans Wunderbare, daß dieses Kruzifix in Assisi noch besichtigt werden kann? - Christus im halb durchsichtigen Lendenschurz, mit schon dem neckisch überbetont genau gezeichneten Knoten, noch aber nicht dem verführerisch provozierenden Schwung der Hüften, wie er den späteren Cristus patiens Typ auszeichnet, den mit geschlossenen Augen Leidenden, der, von Pisanischen Künstlern im 13.Jahrhundert entwickelt, bis hin zu Cimabue und der Süße Giottos (und drüber hinaus), zielstrebig in seiner Wirkung optimiert wurde. So unklar Philipp der Wahrheitswert der unzähligen Anekdoten blieb, welche sein kindisches Wesen umrankten und seine wunderlichen Einfälle, die rasch zahlreichen Anhänger des Franziskus versetzte es in Staunen - erst sendet er Bruder Rufinus in Unterhosen zum Predigen in den Dom von Assisi, dann schließt er sich ihm in gleicher Aufmachung an, um sich für seinen absurden Befehl zu züchtigen; erst ißt er Hühnerfleisch, dann läßt er sich von einem Bruder, der seine Gefräßigkeit zu verkünden hatte, mit einem Strick um den Hals durch die Straßen ziehen - die Inszenierung der im Wortsinn verstandenen Metapher wurde nicht weniger demonstrativer Teil der Existenz dieses Heiligen als ein schwer zu fassendes, vielleicht nur heimliches Gelächter, mit dem man das Überzogene dieser Inszenierungen begleitet. Und in dem sich, wenn man so will, die Wurzel des sonderbar selbstgewissen, innigen Lächelns finden läßt, das, wenige Jahrzehnte später, plötzlich die Gesichter auf vielen Kunstwerken überzieht. Daß sich die Jünger nicht mehr vom Meister unterschieden - der einfältige Johannes ahmte ihn in jeder Bewegung nach, hustete, wenn er hustete, seufzte, wenn er seufzte - paßte bald ebenso ins von seiner Anhängerschaft mit klaren Konturen versehene Bild wie sein Skeptizismus gegenüber jedweder weltlicher Macht, die ihm offenbar nicht weniger suspekt erschien wie die eigene Person oder die Schrift überwichtig nehmende Gelehrsamkeit: Der Legende nach wollte er, als Otto IV., der Herzog von Braunschweig, auf dem Rückweg von der Kaiserkrönung 1209 durch Assisi zog, den kaiserlichen Prunkzug nicht einmal anschauen. Ja, selbst zu Zeiten des Heiligen Franz lag die Altmark noch nicht am Rand der Welt - nach Braunschweig waren es kaum zweihundert Kilometer. Und das berühmte Korintherwort vom tötenden Buchstaben und dem lebendigen Geist, war nicht bezeichnend, daß Franz es anders verstand als der in Sünde lebende Augustinus, der es, mahnend, aus dem Mund des Heiligen Ambrosius vernahm? Augustinus verhalf es aus einem Zuviel der eigenen Gelehrsamkeit zu einem klaren Weniger, zu dem, was er sich unter der einfachen Wahrheit Gottes vorstellte, Franz führte es aus dem Zuwenig der Bibel hinaus in die Welt zu einem deutlichen Mehr. Und nun fand Philipp doch noch etwas an Fontane Erinnerndes: 'Hier ruht Dorothea Briest, Wilhelm Briest' - der Familienname immerhin von Fontanes unglücklicher Titelheldin. Tja, schlicht leidende Familien gab es hier jede Menge - primitive Emporkömmlinge (gegenüber jedenfalls jenem dem Welfengeschlecht entstammenden Otto von Braunschweig) von Art der Moltkes, Quitzows, der Alvenslebens oder des parthenonzertrümmernden Graf Otto Wilhelm von Königsmarck wenigstens nicht. Hier im Dorf kam niemand empor.

Philipp fand indes ungeheuer , daß der Orden dieses Narren in Christi fünfzig Jahre nach dem Tod seines Begründers zum gelehrtesten der Universitas wurde - neben dem der konkurrierenden, Dominikaner, die über den trockenen Glanz des Thomas von Aquin verfügten - und bald mit den Namen eines Alexander von Hales, eines Bonaventura aufwartete (der gleichfalls Platz im Paradies der commedia fand), aber auch mit Petrus Johannis Olivi, Roger Bacon, Johannes Duns Scotus und schließlich sogar William von Ockham - eine in der Renaissance zu einer als objektiv sich gebärdenden Naturbeschreibung führende, wenn nicht sogar direkt in die klassischen Naturwissenschaften hinein sich entwickelnde Linie, auf der man den freien Wille erst mühsamst hervorzerrte und dann lebendig zappelnd wieder begrub. Gegenüber dem Allgemeinen betonten sie das Besondere, unterstrichen sie die Fülle der Möglichkeiten, der Wunder, aber auch den Willen, die Freiheit, die Einzigartigkeit des Menschen, der nicht nur in Beschaulichkeit verharren, sondern - so die schlichteren Interpreten ihrer zugleich höchst obskur um immer ausweichendere Definitionen der Natur Gottes sich windenden Texte - im Sinnes Franzens auch 'liebevoll tätig werden' soll. Der Philipp bei der Vorführung von Dresslers Film in der Berliner Akademie so gegenwärtige Duns Scotus war gleichfalls Franziskaner: da er in der unbefleckten Empfängnis die Freiheit Gottes am Werke sah und dieser die Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen habe, billigte er sie auch der Menschheit zu, diese gleich zu Anfang, gerade auf Seiten Gottes, mit dem ambivalenten Geschmack von Übermut versehene Freiheit - in deren Namen Philipp Vera dann im Kino nicht weniger übermütig zwischen die Beine zu greifen suchte: er wollte sie ja nun wirklich nicht durch Empfängnis beflecken. Von Thomas von Aquins bekannter dreipunktiger Begründung für das Vorhandensein von Bildern im kirchlichen Raum konnte er da kaum Leitung erwarten, dafür wird der durch Franziskus angestoßene Wandel in unseren Wahrnehmungsweisen an ihr um so deutlicher sichtbar:

Steht der erste - "ad instructionem rudium", zur Belehrung der Ungebildeten - noch ganz im Schatten Gregors des Großen (ihm verdanken wir, nebst der berühmten, wenn nicht von ihm veranlaßten so doch seinem Namen verbundenen Choralsammlung, den locus classicus, einen Brief an Bischof Serenus von Marseille aus dem Jahre 600, worin es klar heißt, daß "praecipue gentibus pro lectione pictura est", daß die Malerei also vornehmlich den Leuten zur Belehrung da sei, denn: "was für den Lesenden die Schrift ist, das ist für die Augen der Ungebildeten das Bild, denn auf ihm sehen sogar die Ungebildeten, was sie nachahmen müssen, auf ihm lesen die des Lesens Unkundigen; und Bilder sind nicht in den Kirchen angebracht, um angebetet zu werden, sondern einzig und allein, um die Ungebildeten zu unterweisen", wob also vom didaktischen Charakter der Bilder ausgegangen wird, den Buchstaben der Laien, "literae laicorum", wie Sicardus von Cremona sie in späterer, in romanischer Zeit nannte), so geht der zweite Punkt von Thomas Begründung - "ut incarnationos mysterium et sanctorum exempla magis in memoria nostra maneant", zum Erinnern ans Mysterium der Inkarnation sowie die Beispiele der Heiligen - sogar hinter das allzu bilderstürmende Ikonoklastie zurückweisende zweite Nicäische Konzil zurück (wo 787 artikulierter als in der Epistel Gregors zwischen zweierlei Bildgebrauch unterschieden wird: "ad salutationem", zur Begrüßung, und "ad memoriam", zur Erinnerung - eine Unterscheidung, die Philipp, das nebenbei, als für die eigene Filmarbeit wesentlich erkannte ), während Thomas dritter Punkt - "ad excitandum devotionis affectum", die Erregung frommer Gefühle - ein lakonischer, dem thomistischen Denken sonst eher peinlicher Appell an den 'affectus' ist, wie man ihn zuvor auf gleicher Stufe mit einer doktrinalen Ausführung nie hat hören können.

Seltsam, daß er, Philipp, die Tiefe des da Angerissenen nur fühlte, wenn er es auf Lateinisch vor sich sah, nur dann besaß es die zum tieferen Nachdenken nötige Schwere, als sei inzwischen so viel über Bilder gesagt, gerade in letzter Zeit, wo man ihren Sieg herbeizureden sucht, daß niemand es mehr Ernst zu nehmen vermochte. Thomas von Aquin besiegelt in dieser nüchternen Aufzählung der "Summa" eine bereits gegen sein eigentliches Denken gerichtete Veränderung, die Franziskus beschleunigte und zu Bewußtsein brachte, und deren Richtung Philipp am klarsten im Vergleich mit dem Heiligen Bernhard wurde: es ist die Richtung, in welcher die Kunst sich noch immer bewegt. Wie Franziskus pocht Bernhard ein Jahrhundert zuvor auf die innere Dimension des Gebets und setzt dabei das geschriebene Wort, das Gebetbuch, gegen das gemalte oder gemeißelte Bild. Aber während für Bernhard der innere affectus von den Büchern, nicht vom Bildwerk - "codicibis, non marmoribus" - ausgelöst zu werden hat - der Gedanken ist sogar in den raumumfassenden Verglasungen der französischen Kathedralen noch zu entdecken, worin sich die affektiv erzählende Bildsubstanz im Edelsteinfunkeln des Ornamentalen verliert -, wird dem Gebet für den Heiligen Franz durch die unablässige Lektüre des "liber crucis" zu Leben verholfen: anstelle der Gebetbücher lehrt Franziskus seine Mönche, beim Gebet das "Buch des Kreuzes" zu benutzen und "mentaliter potius quam vocaliter", mehr mit dem Geist als mit der Stimme, zu beten, wobei man den Gekreuzigten unverwandt betrachten solle - "continuatis aspectibus", durch fortwährende Betrachtung. Daß sein eigenes Erleben vor dem bemalten Kreuz von San Damiano hier sinnstiftend wirkt, liegt auf der Hand. Das Gebet wird zu einer Meditation über das Leiden Christi, wobei das Bild in feinsten Nuancen vermittelt. Nachdem dies von Franziskus begriffen war, konnte Christus die Augen schließen, brauchte er den Betrachter vom Kreuz herab nicht mehr hohläugig triumphans zu betrachten, durfte er zum bloß leidenden Cristus patiens werden - mit seinem auf einmal provozierendem Hüftschwung mußte er nicht mehr persönlich sprechen, weil seither (auf diese Art betrachten wir heute noch Kunstwerke) das Gespräch im Betrachter entsteht. Malerei und Schrift sind dabei Pole ein und derselben Botschaft, die sich nur scheinbar aufspaltet in Botschaft für die der Schrift mächtigen Gebildeten und eine für Gregor des Großen "idiotae", also die Ungebildeten; sie kann ihren Raum nur füllen, wenn die Buchstaben auch zum Volk und die Bilder auch zum Geistlichen sprechen. Also nicht bloß "litterae laicorum", wie man über das ebenfalls vom Heiligen Franz in die Christmesse eingeführten Krippenspiel sagt - sie sprechen zugleich die Sinne der Gebildeten an und beleben mit ihrer Farbe und dem Ausdruck der Gesichter die Worte von Gottes Schrift. Gerade beim Krippenspiel weint der Heilige Vater am stärksten. Seltsame Ironie, daß die gleiche Struktur auch bei Vera und ihm, Philipp, am Wirken war, an jenem Abend im Kino der Akademie der Schönen Künste, als viele Jahrhunderte überspannender Reflex, wo sie, ob nun gebildet oder nicht, zwar nicht angesichts eines Kruzifixes über ihre Lage meditierten, sondern anhand von Dresslers Film, um durch seine Vermittlung zu einer ihnen eigenen Wahrheit zu finden - zu einem gemeinsamen Auftrag sogar, den sie in den folgenden Nächten dann ja allergehorsamst exekutierten. Die Analogie zwischen dem gekreuzigten Christus und dem Bildmaterial mit dem von den Nazis Angerichteten ist auf seltsame Weise perfekt und den veränderten Bedingungen eines Massenmediums insofern sogar angepaßt, als nunmehr auf Bildern massenhaft und nicht nur einzeln gelitten wird. Daß Vera und er sich nicht aufgefordert fühlten, von der ewigen Verdammnis der Deutschen zu predigen, von Fegefeuer, Hölle und Jüngstem Gericht - wie so viele andere, die dieses ja nicht nur in Dresslers Film erscheinende skandalöse Bildmaterial wahrnahmen - und das womöglich gleich dem Heiligen Franz in Unterhosen (aber sie hatte ja gar keine an) und direkt vor der Berliner Gedächtniskirche, war pures Glück.

Waren auf den vorfranziskanischen Bildern oder Skulpturen die meisten Gegenstände - Kreuz, Schlüssel, Taufbecken, Codices, Gebäude, wilde Tiere, die Symbole der Evangelisten, das Lamm Gottes - noch als bloße Verschlüsselung nebeneinander stehender Worte zu begreifen, kamen die Bilder, ließe sich das summieren, durch Franziskus zum Gefühl, begann ihre Kraft in dem zu liegen, was sie suggerieren können, ohne es zu sagen; oder mit den platt-gelehrten Worten von Erasmus: "Oft sehen wir in den Bildern viel mehr als das, was wir den geschriebenen Dingen entnehmen." Fortan wird durch Bilder zeigbar, was man nicht sagen kann. Oder besser: was man nicht ganz sagen kann. Oder: nicht sagen will, weil es zum Beispiel zu gefährlich sein könnte. Aber auch zu Erasmus Zeiten erhielt sich, wie beim Heiligen Franz, ein Rest von direktem Zusammenhang zwischen Buchstaben und Bild, das Bild galt als stummes Buch, als libro muto e taciturno, was sich im Verlauf der abendländischen Kunst kaum änderte. Bilder gelten auch im unchristlichen Zusammenhang als besonders gelungen, wenn sie kurz vor dem wichtigen Wort sind, konventionell 'Mutterliebe', 'Schönheit des weiblichen Körpers', 'Leiden der Menschheit' etc.; bzw., um in abstraktere Begriffswelten zu wechseln, von 'präzise begriffener Perspektive', 'Erfassen der Nuancen einer Landschaft' oder in heutiger Zeit ganz im Gegenteil einer nachdrücklichen Abwesenheit perspektivischer Räumlichkeit, weiterhin jedoch stets durchzogen von den Grundansprüchen antiker Rhetorik: docere - delectare - permovere - belehren - entzücken - bewegenc. Gerade wenn man nicht voll überzeugt ausrufen kann: "Dazu fehlen mir die Worte!" beginnt die Qualität. Liefert ein Bild keinerlei Beziehung zu einem uns interessierenden Wortfeld, wird es uns langweilig, wie es Manchem, weil ihnen das Vokabular fehlt, bei abstrakter Malerei überhaupt geschieht. Oft wissen wir beim Betrachten so eines libro muto e taciturno indes nicht, welchem Wort wir da eigentlich nachsinnen, obschon wir bereits ein Gefühl davon empfinden - da beginnt die größere Kunst. Ganz gewiß entstand diese nicht ausschließlich: "Auf daß das Volk (die "idiotae") in die Kirche gelockt werde", wie manch 'materialistisch' gestimmter Kunsthistoriker glauben machen will - auch Philipps Freund Thomas Reiffenberg gehörte dazu (verdankte er nicht ihm den Hinweis auf das Sterbezimmer seines bei Aquin geborenen Namensvetters in der Abtei Fossanova, die er, Philipp, mit Franka, Cornelia und Christiane, auf dem Weg zu Sullas Heiligtum in Terracina, dann besichtigt hatte?) -, als Werbemittel also und Propaganda-Instrumentarium, wie es in Lenins Wort vom Film als der Höchsten aller Künste herumgeistert, als hinter dem Film stehender eigentlicher Zweck, was, wie so vieles am Kommunismus (aber das ist ja inzwischen längst bekannt), auf christlich-dogmatische Positionen zurückfallen will.

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Mit Rührung mußte er der kleinen Bibliothek gedenken, die sein Vater in den Nachkriegswirren nach Haus brachte, und die ihn, Philipp, so manchen dieser Denkanstrengungen schon als Kind begegnen ließ, im für ihn von Dante entworfenen Paradies, welches die mittelalterlichen Heiligen freilich als mehr oder weniger bloß Statisten füllen. Jene Bretterkiste war, wenngleich vor allem wohl Ausdruck naiven Willens zur Beute, eine große Geste seines Vaters, gerade der geringen Schulbildung wegen, die diesem zu eigen war und in der ihm klar sein mußte, daß er zu ihrem Inhalt kaum selbst würde Zugang finden; zu einem Inhalt, dessen Bedeutung in einer Zukunft ohne ihn lag, einer Zukunft nur für den Sohn. Nutzte Einem das in jener Kiste durch die Kriegs- und Nachkriegswirren transportierte Wissen? Oder schärfer: nützt überhaupt, was man an Geistesgeschichtlichem sich so im Lauf eines Leben aneignen kann? Im Grunde nicht - meinte Philipp -, außer man verdient damit anständiges Geld, womit man eine Familie versorgt, ansonsten macht es im Umgang mit den Mitmenschen eher . . . hilflos. Insofern waren Christiane und Cornelia ausgezeichnet beraten, wenn sie nach dem Besuch Fossanovas lieber von Mozarellasorten sprachen als über die schmucklos elegante Innenausstattung der dortigen Zisterzienserabtei (oder gar das scholastisch-administrative Wirken des Thomas von Aquin), an jenem wichtigen, jenem folgenschweren Tag, an welchem er, Philipp, in Terracina das Heiligtum Sullas vom Hafencafé so einfühlend von unten betrachtet hatte. Nein, diese Art Buchwissen nützt Einem nicht, eher schon der Umgang mit ihm, die Aura, wovon es umgeben wird: ihn selbst hatten die explosiv in der Kiste schlummernden Buchstaben immerhin auf die ihm eigene Weise lebendig gemacht - vielleicht würde ihm sogar gelingen, irgendwann, beim Schreiben einen ganzen Absatz zustande zu bringen, der richtig klänge . . . ja: einen Absatz, der ohne Einschränkung richtig ist! Nicht bloß plausibel, folgerichtig, lyrisch und originell, oder was es da sonst an Worten gibt, sondern einer der auch das Pretentiöse, das so einem Absatz per se innewohnt, gar nicht erst zur Geltung kommen läßt und eine Aussage auf wundersame Weise zugleich in ihr Gegenteil verkehrt, ohne ihre Gültigkeit einzuschränken - ach, ihm reichte ja, erstmal, ein einziger, einigermaßen komplizierter Satz! Bisher war ihm noch keiner gelungen - er hatte allerdings auch noch nicht allzuviele zu lesen bekommen. Bei genauerem Hinsehen hatten die meisten einen sonderbaren Nebengeschmack.

War sein Vater nun ein Held und Verbrecher? Philipp wußte es nicht zu sagen. Oder war das ebenfalls eine unwichtige Frage? Sollte man nicht, statt darüber nachzugrübeln, lieber zum Italiener gehen? Nicht einmal bei Onkel Rudi war es ganz klar, trotz der Eindeutigkeit seiner Verwicklung in die Waffen-SS: was den einzelnen Soldaten betraf, blieb offenbar reiner Zufall, wer in diesem Krieg wohin kam und was man da für Sachen anstellte. Vom sogenannt anständigen Kampf Panzer gegen Panzer oder die gegnerische Panzerabwehr bis hin zu den schlimmsten Greueltaten gab es alles - wer wo dabei war, blieb in der Tat reiner Zufall. War die Frage nach dem Verbrecher also ebenso überflüssig wie sein Buchstaben-Wissen? Und was schmeckte eigentlich, wer seinen Vorgängern zu direkter Unsterblichkeit verhalf, indem er an ihren Werken und Taten herumschnupperte? Trotz Peters halb herausgelachtem Verdikt, er sei ein Untier der Moral, brachte es der Heilige Augustinus zu einem der privilegiertesten Plätze in Dantes Paradies und war nie wieder hinausgewiesen worden. Und ist aus solch paradiesischer Perspektive nicht seltsam, daß Melville den weißen Wal, diese letzte natürliche Erektion auf Erden, nicht mit dem Geist des Heiligen zu bekämpfen sucht, sondern, ganz im Gegenteil, im Namen des Teufels? Denn so segnete Ahab seine Harpune: "Ego non baptizo te in nomine patris, sed in nomine diaboli" - nicht im Namen des Vaters, sondern im Namen des Teufels. Sprach diese strikte Negation noch von christlichem Glauben oder schon von schlechtem Gewissen, weil man nämlich im Namen Gottes die Schönheit auf diesem Planeten ausgerottet hatte und das nachträglich nun dem Teufel zuschreiben wollte? Und wieso wetterte einer wie Peter Steinhardt gegen Augustinus, während ihm Melvilles Verleugnung des Geschlechtlichen lieb blieb? Weil im Falle Melvilles der Kreuzzug gegen den Penis vom Bösen ausging, von Einem selber also, aus dem eigenen Blut heraus? Selbstverständlich sind wir da alle gern Ahab. Hätte er seinen Vater fragen sollen, was er in jener Zeit wirklich tat? Es kam Einem sinnlos vor. Wäre er wirklich in Greueltaten verwickelt, hätte er es nicht oder nur beschönigend zugeben können - um seine Kinder zu schonen, um sich selbst zu schonen. Aufrichtigkeit war von niemandem da zu erwarten. Warum sollte jemand ausgerechnet beim Zugeben seiner Verbrechen aufrichtig sein, in einer vor Scheinheiligkeit nur so wimmelnden Welt, wenn überall sonst, auch wo es ums Sexuelle ging - sogar beim Heiligen Augustinus ablesbar -, Aufrichtigkeit eine außerordentlich heikle Angelegenheit ist; eigentlich bloß etwas für Naive oder ausgesprochen Dumme, die man hineinlegt und deren Leben nach derlei Bekenntnissen von, nicht immer, aber doch häufig bloß Scheinheiligen - von biederen Staatsbewahrern bis hin zu tollkühnen Suffragetten - zur Hölle gemacht wird. Und selbst wenn Philipp von ihm erführe, sein Vater hätte im Krieg nur Latrinen gereinigt - wie sollte er ihm glauben? Es ging nur durch Vertrauen. Doch leider konnte man dem auch mit Vertrauen nicht befriedigend begegnen: je mehr man glaubte und vertraute, desto peinlicher, desto quälender, und zwar für beide, war der winzige Rest an Mißtrauen, von Unglauben, der notwendig immer blieb. Irgendwas hatte nämlich jeder am Stecken. Schon aus dem normalen Leben kam kaum Einer in moralischer Hinsicht ganz ungeschoren davon, aus diesem Krieg tat es Keiner. Irgendwas Seltsames hat jeder gemacht, das lag, wie so vieles von ihm erst jetzt richtig Erfahrene, in der "Natur der Sache". - Nein, es gab für die Generation seiner Eltern gar keine Möglichkeit, so etwas wie 'Unschuld' zu beweisen. Besser, man wußte gar nichts. Und wer war er, Philipp, denn schon, daß er sich hier zur moralischen Instanz aufblähte? Er, der weder - und darauf war er wirklich nicht stolz - ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt, noch ein Kind gezeugt hatte. Und auch jetzt, wie denn nicht, produzierte er kaum einen richtigen Satz. Er zählte doch gar nicht; das einzige, worin er zuweilen tatsächlich so etwas wie Heimat fand, war der Bereich um die Kunst, ganz als sei die schiere Tatsache ihres Vorhandenseins bereits derart vereinnahmend, daß kein Mißgeschick ihn von einer fundamentalen Dankbarkeit ihr gegenüber zu entheben vermochte. Obwohl er dazu neigte, den Bruch mit seiner Familie nicht weniger radikal werden zu lassen wie der Heilige Franziskus, der sich mit fünfundzwanzig von seinem Vater lossagte, um ihn nie wieder zu sehen, sperrte sich in Philipp bei seiner Kunst etwas gegen die Radikalität des gern ignorierten Lukaswortes: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter und Kinder und Brüder und Schwestern haßt, und dazu sich selbst, dann kann er nicht mein Jünger sein." Nein, ihm war nicht gegeben, für das, was er tat - wenn man so will also die Kunst - auf gleiche Weise zu leben wie Franziskus einst für die Liebe zu Christus, der zu ihm gesprochen und ihn, indem er ihm vom Kreuz herab eine Lebensaufgabe zuwies, aus unendlicher Trübsal gerettet hatte. Monet, Cézanne, Gauguin und van Gogh war das unter mancherlei Verrenkungen offenbar noch gelungen, deshalb machte auch Sinn, sie als Heilige zu betrachten. Etwas in Philipp wollte sich gegenüber Familie und Freundschaft eine sentimentale Idylle bewahren, gerade jetzt; die Welt, die sich ihm als Alternative bot, war zu gestaltlos, sie war zu - "kalt"; gerade jetzt, wo klar zu werden schien, daß ihm in ihr nicht einmal Erfolg beschieden sein würde, fühlte er das. Ja, nicht einmal richtiger Erfolg. So radikal wie dieser Heilige konnte, wollte er es nicht halten, wenn auch seine Instinkte gleichfalls auf Vatermord wiesen. Gerührt fiel ihm ein, daß ihm sein Vater das Zwiebelschneiden beigebracht hatte, zwei, drei kleine Tricks, womit man schaffte, Zwiebeln ganz klein zu kriegen. Immer wenn er Zwiebeln schnitt, dachte Philipp mit stereotyper Rührung daran - vielleicht, weil ihn das Schneiden der Zwiebeln auch, als sein Vater es ihm beibrachte, zum Weinen gebracht hatte. Mit der Raffinesse dieser Schnitt-Technik vermochte er mitunter selbst Frauen zu imponieren, sogar in ihrem Reich, ihrem, ja, Herrschaftsbereich, der Küche. Anscheinend muß man Kindheit sentimentalisieren, will man sich nicht ganz von ihr ablösen und trennen - aber die Komponenten der Kindheit herauszufinden, die für Sentimentalität geeignet sind und Einen trotzdem nicht zerstören, ist schon eine harte Aufgabe. Irgendwann, scheint es, löst sie wohl jeder.

***

Und noch ein Rätsel: 'Unsere Ruhestätte Hermann Zersch 1910 bis 1948' - das für die Frau auf dem Grabstein freigelassene Feld nicht gefüllt. Warum? Oder: 'Ruhestätte der Ehegatten Ann Gustav Kühle' - darunter: 'Otto u. Anna Klaus' - die Kinder, die man ebenfalls hier begrub? 'Unsere Ruhestätte Berta Karl Tietz geb.Geue 1888-1947' - unter dem Vornamen des Mannes nur das Geburtsdatum 1890 - mußte woanders gestorben sein. Oder ganz traurig: 'Unsere Ruhestätte Margarete Schwarzlose 1908-1970, Otto Schwarzlose 1901' - (kein Sterbedatum) - 'Horst Schwarzlose 1930-1954 / Warum?' - Vater überlebte Frau und Sohn und starb dann nicht oder woanders, ja auch diese Rätsel zerfielen irgendwann zu Natur. Ach, Zahllosigkeit der dahinterstehenden, sich nie mehr entwirrenden Lebensgeschichten. Wie wohl das in dieser gottlosen Zeit tut, seufzte Philipp: sich hier auf einem Dorffriedhof dem Denken wirklich Heiliger nähern, dem Heiligen Bernhard, Thomas von Aquin, dem Heiligen Franziskus, nicht nur dem von Künstlern, die alle Welt ja gern als ihre Nachfolger begreift. Ach, Heiliger Michelangelo! Nein, Philipp, glaubte noch an den Heiligen Geist, insofern zumindest, als sich darin das in die Zukunft Drängende hinter dem Tun und Denken der von ihm angeblich Erfüllten darstellt. In all das, in diesen unaufhaltsam, so schien es doch, voranschreitenden Prozeß, war er schließlich, mehr vielleicht noch als in sein Deutschsein oder auch Vera in ihr stolzes Berlin, worin sie sich immer mal wieder flachlegen lassen wollte - hineingeboren. Die Heiligkeit von Franziskus stand bei dessen Zeitgenossen jedenfalls außer Frage: zwei Jahre nach seinem Tod wurde er zum Heiligen erklärt. Was bedeutete, was bedeutet so ein Akt? Geht es nur um den Wunsch, etwas Erstaunliches ein wenig länger im Gedächtnis zu halten, das sonst unwiderruflich verschwände? Dem mochte man sich heute noch anschließen. Doch in wessen Gedächtnis? Stellte so ein Akt nicht zugleich eine aggressive Herausforderung dar, ein unverschämt aggressives Herausfordern der Zukunft? In jener Zeit begann sich die bis dahin stark byzantinisch gefärbte Sichtweise von Bildern (die ausschließlich von der Leidenschaft beseelt war, das menschliche Antlitz der Wirklichkeit zu entreißen, um es im Heiligen aufgehen zu lassen - gegenüber vorheriger römischer Kunst, unter dem Gesichtspunkt des Kommenden, freilich kein geringes Verdienst, nicht zuletzt wegen des darin enthaltenen radikalen Gedankens, daß Kunst nicht aus einer bestimmten Art die Welt zu sehen entsteht, sondern aus dem Bedürfnis, sie umzugestalten) in Italien zu ändern, und das schien Philipp nicht gerade Zufall zu sein (und als er dies schrieb, scherte er sich weder einen Teufel darum, ob es plausiblen Platz bei dieser Friedhofsbegehung fände, noch ob so ein Roman überhaupt der richtige Ort dafür sei, zu sehr wollte er die Genese des abendländischen Bildverständnisses, das inzwischen den Kern seiner Person, nicht nur ihrem künstlerischen Ausdruck, würgend umfaßte, endlich verstehen:) - Unter dem Eindruck von zum Teil schon zu Lebzeiten entstandenen Tafeln mit Abbildungen des Heiligen Franz, begriff man sie zunehmend mehr als mit der Wirklichkeit verbunden, in Art einer Gedächtnisstütze , aber außerdem, wichtiger, als mit der am Beispiel dieses Heiligen 'bewiesenen' Fähigkeit versehen, das Gemüt im Sinne Christi zu bewegen - so verteidigten die Befürworter der plötzlich außerordentlich offensiv von der Kirche propagierten Bildkunst ihre Politik erfolgreich gegen einen asketischeren, ikonoklastisch gesinnten Zweig der Franziskaner, die, da sie sich den Ärmsten der Armen zuwenden wollten, in Bildern unnötigen Luxus sahen.

Unterdes die ähnlich asketisch denkenden Zisterzienser in der Abtei von Fossanova den Gedanken einer schmucklosen, fast schon protestantischen Kahlheit zu Gestalt verhalfen, folgten der Heilige Bonaventura und seine Nachfolger nun einem entgegengesetzten, einem - auch gegenüber der ins farbig Abstrakte zielenden französischen Gotik, ihren die Spiritualität Gottes evozierenden Lichtarchitekturen - zunächst weit primitiveren Programm und forderten zahlreiche Künstler auf, die auf dem Grab von Franziskus errichtete Kirche mit Szenen auszumalen, die sein Leben und Wirken nuanciert im Gedächtnis hielten. Nicht von der Abstraktion her, worin die Bildprogramme der Glasmalerei das biblische Geschehen münden ließen, um dem vor Staunen die Augen aufsperrendem Betrachter, wie die authentischen Quellen überliefern, das göttliche Funkeln des Heiligen Jerusalem nahe zu bringen , entwickelte sich die neue Kunst, aber auch nicht vom Teufel und immer bedrohlicheren Darstellungen des Jüngsten Gerichts, wie es noch kurz davor schien (mancherorts bis ins Spätmittelalter, wobei der Teufel und sein Werk als um so gelungener betrachtet wurden, je gräßlicher sie aussahen), sondern über die Zärtlichkeit, mit der Maria ihr Kind betrachtet, über die Anmut, das liebevoll Ausgemalte, das unversehens auf manchen Gesichtern erscheinende Lächeln, über die franziskanische Wende zu einer Welt - nicht zuletzt darin besteht ihre Herausforderung - die man "lieben" kann. Ganz als sei die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins Grund genug schon für solche Liebe.

Hier beginnt die uns geläufige Bilderwelt: nach über 700 Jahren ging die Saat auf, wie sie in der Antike in den Bauten des Theodosius und seiner Nachfolger (in Ravenna oder dem nachbyzanzischen Konstantinopel) angelegt war, die sich im politisch so unzureichenden Zeitalter des Heiligen Augustinus dem Bischofswort unterstellten: Statt aber wie in Frankreich (auch Pisa und Siena, selbst Naumburg und Magdeburg gaben einiges her) die Dome und ihre Fassaden mit immer zahlreicher schlank sich streckenden Skulpturen auszuschmücken (während es innen von großflächig das Ornamentale feiernder Glasmalerei nur so funkelte), wurde die äußerlich schlichte neue Grabkirche auf ganz neue Art ausgemalt - die wohl wichtigste Erfindung der italienischen Gotik, sie öffnete den Weg in die uns vertraute Moderne. Ihr Bau wurde auch als der Beginn von etwas wirklich Neuem begriffen und entsprechend kühn angegangen, indem man Assisi im Norden durch eine Terrassenkonstruktion verlängerte, um Platz für das neue Gebäude zu schaffen, weil ein von Bürgern gespendeter Hügel, wegen der dort gelegentlich stattfindenden Hinrichtungen wurde er 'Höllenhügel' genannt, nicht ausreichte. Und so entstand dort eine, wie Philipp, als er sie sah, amüsiert bemerkte, Sullas Bergheiligtum von Terracina ganz ähnliche Plattform mit in römischer Art bogenförmigen Substruktionen, auf der sich schließlich die Kirche erhob. Nach ihrer Einebnung, in all das war auch er, Philipp, ja, ja: hineingeboren, nannte man die Stätte 'Paradieshügel' - menschengemacht endlich diesmal, das Paradies !

Je genauer man blickte, desto konfuser und trauriger kam Einem die daraus hervorgegangene wirkliche Moderne vor - zum Beispiel die 'Ruhestätte der Familie Zimper'; in der Mitte des breiten Steines: 'Unser Sonnenschein Karl Heinz 1921-1939 / Du warst unsere Zukunft und Leben. / Für dich, unser einziges, / galt unser Schaffen und Vorwärtsstreben. / Das solltest Du, / unser heißgeliebtes Glück, nicht mehr erleben.' - ein gewissermaßen 'unvollendetes' Grab, links und rechts von der das Kind betrauernden Inschrift Platz für die Eltern, die man an wohl ganz anderer Stelle begraben hat. Großangelegt und bejammernswert. Ein zumindest in Hinblick auf dieses Dorf gräßlich gescheiterter Lebens- und Sterbeplan. Die Ausmalung der Grabeskirche des Heiligen Franziskus und die damit verbundene Tatkraft, mit der die Hölle in ein irdisches Paradies verwandelt wurde (kehrte Philipp rasch wieder zum ihm jetzt eigentlich Bedrängenden zurück:) wagt dagegen kaum jemand als gescheitert zu bezeichnen, fanden sich doch um 1290 in Cenni die Pepo, genannt Cimabue, und bald auch Giotto, Künstler, deren Fähigkeiten den neuen Anforderungen gewachsen und sogar mehr als gewachsen waren. Zunächst gings in der hellen Oberkirche ans Werk, wo Cimabue Chor und Querschiff mit entsetzlich intensiv, heute fast expressionistisch sich ausstellenden Evangeliumsszenen versah - Marienleben, Apostelgeschichte, Verstiegenes der Apocalypse -, die sich, anders als die Malerei vorher, nicht der Architektur unterwarfen, sondern in großen, sauber voneinander getrennten Rechtecken mit eigenem Recht sprachen. Und die sich der Architektur sogar bedienten, sie sich also untertan machten, indem nämlich, in Form von Kirchen und anderen Gebäuden, Architektur in diesen neuartigen Rahmen explizit auftauchte, in gerahmter bildlicher Präsenz, worin Einem bereits sonderbar entgegen geschrieen wird: Ich bin unabhängig! Ich bin frei! Ich mache mir die Welt untertan, bin nicht mehr Sklave eines Gebäudes, nicht einmal mehr der Kirche, auch wenn ich sie hier noch mit Bildern versehe und feiere.

Mit dem Rechteck schuf Cimabue ein Symbol, das als Tafelbild zum Träger künstlerischer Unabhängigkeit wurde, einzig die Mobilität der Unterlage fehlte noch, die Leinwand, welche die Künstlerschaft aus dem kirchlichen Raum hinaus in die Welt (und schließlich ins Museum) brachte. Cimabues verwegener Ausdruck traf Philipp bei seinem Besuch Assisis am schärfsten; Giottos danach an den Längsschiff-Wänden gemalter Serie (die berühmten achtundzwanzig Begebenheiten aus dem Leben des Heiligen Franz - daß sie in klar aufeinander folgenden Phasen entwickelt werden, scheint ebenfalls eine Errungenschaft der plötzlich präsenten Rechteckform zu sein) haftete demgegenüber etwas peinlich Penibles an, als sei die neuartig den Raum erfüllende Süße Giottos einem Bürokratengehirn entsprungen, auch in ihrer Cimabue entlehnten sauberen, lebensgroß-großflächigen Gerahmtheit, was aber - herrlicher Bildgesang (großartig auch die Musikinstrumente und mehr noch der eifrige Ausdruck der sie spielenden Gesichter, und der feine Gesichtsausdruck der vielen Gestalten überhaupt, von denen Rudolf Borchardt bemerkt hatte, sie seien, insbesondere in ihrem Lächeln, das die großspurig auftrumpfende Genialität der Glasfensterensembles der französischen Kathedralen zu stummem Klagen endgültig sterben ließ, in den Kanzeln der Pisanos in Pistoia, Siena und Pisa schon mehr als nur angelegtd) - das da Geleistete nicht zu schmälern vermag; im Gegenteil, vielleicht war gerade das an der neu entstandenen Kunst so wunderbar erstaunlich.

Alsdann wandte man sich der düsteren Unterkirche zu, direkt über dem Grab des Heiligen. Unbeholfene frühere Versuche - darunter in rabiater Weise gleich einiges des Cimabue selbst - wurden von Schülern Giottos (aber auch Simone Martini und Pietro Lorenzetti) mit den neu entwickelten Maltechniken erneut übermalt und rasch entstanden Hunderte von Bildern, so viel wie möglich, keine Fläche an Decken und Wänden ließ man aus, weder Stichkappen noch Zwickel, dafür wurde der Bau, wenn nicht errichtet, so doch schließlich benutzt, eine lückenlos leuchtende Bildtapete, rhythmisch stabilisiert von ornamentreichen Rahmungen in klar rechteckig ausgerichtetem Muster (jedes einzelne dieser gefüllten metergroßen Rechtecke, anders als bei den bislang eher amorphen romanischen Kirchenausmalungen, plötzlich der gesonderten Betrachtung wert und mit fixiertem optimalen Betrachtungspunkt), wie man sie davor noch nicht sah . Weil Franz die Natur liebte, zu Vögeln und Blumen predigte und sich als Teil von ihr begriff, erscheint in einigen Bildern Giottos auch die Natur selbst, als nunmehr notwendig integrierter Bildteil, wenn auch zumeist nur als schüchtern angedeuteter Hintergrund - wie Pappmachee sieht das ein bißchen aus, oder als habe man erst ein Pappmachee-Modelle des Hintergrunds angefertigt, um ihn auf gleiche Art abbilden zu können wie die im Schnitt dargestellten Gebäude, die sich ja eher an Puppenstuben als an der Wirklichkeit orientieren - aber bald wurde selbstverständlich, daß die Heiligen, die es durch Bildwerk zu feiern galt, sich in der Welt befanden, als Teil, wenn man so will, des von der franziskanischen Scholastik ansatzweise postulierten objektiven Raums, und darin stehen mußten - der Beginn, wie man immer gebetsmühlenartig sagt, der "Perspektive". Das erstreckt sich bald auch auf nicht dem Heiligen Franziskus gewidmete Kirchenausmalungen. Statt des bislang benutzten Goldes, das den Malern, wie in den kostbaren Codices, als Licht Gottes galt, das dieses Licht sogar war, wird das auf Himmel anspielende Blau möglicher Bilduntergrund, ein Wandel, der, vermittelt durch Duccios magisches Rot, hinaus in die Welt weist - und bald ins gleich hinter dem Himmelsblau lauernde Vakuum, bis hin zu Sternen* und Kometen - "Es leuchten vom Firmament die Plejaden - ich bin allein..." - die man bei Giotto ebenfalls finden kann. Zunehmend fiel der Malerei schwer, mit skizzierten Häuserrahmen der Art Duccios (der sie wohl nicht erfand, aber die Parallelperspektive als erster systematisch nutzte) als alleinigem Hintergrund zufrieden zu sein, immer mehr drängte sich die Notwendigkeit auf, den Menschen, wie Tizian und Giorgione es schließlich vollbrachten, als in die Natur eingebettet zu zeigen, in einen objektiv vorhandenen Raum.

Der wiederum selbst, als Metapher von Gottes universeller Präsenz, abgebildet zu werden verdiente, wobei der Betrachter die Gegenstände in den Bildern nicht mehr in ihrem Nebeneinander zu lesen vermag, sondern vielmehr, wenn er (in der Art Gregor II, für den auf diese Weise Kinder belehrt werden sollten) auf Details mit dem Finger zu weisen wünschte, ganz wie früher in die Kirchen, nun in den Raum eines jeden einzelnen Bildes eindringen mußte, in seine räumliche Struktur, um dort, wo Einem nicht nur Licht und die bloße Form sondern darüber hinaus bald in ganz neuem Helldunkel auch die Stofflichkeit und das Volumen (und, erst zaghaft, dann aber immer stärker, bis hin zur Raumerfülltheit von Rubens, sogar die Bewegung!) verführerisch nahegebracht wurden, nach Erfühlbarem zu tasten. Erst dies - und zuletzt nur noch die Natur, als habe sich mit dem physischen, dem körperlichen Verschwinden Gottes seine Essenz über der ganzen Welt ausgebreitet, und da sind wir dann wieder beim sechshundert Jahre jüngeren van Gogh**, der, bevor er wirklich zum Maler wurde, in Art der Franziskaner den Allerärmsten zu predigen versuchte und darüber (leider, sagen die einen, Gott seis gedankt, allerdings andere) das Lächeln wieder verlor. Für Franz von Assisi war die Natur ein Verbündeter, der wohl erste, der im natürlichem Leben, in der von Gott geschaffenen Natur, ein Vorbild menschlicher Existenz sah, und für den die bloße Tatsache des Seins schon etwas derart Überwältigendes annahm, daß kein Unglück uns von einer Art kosmischer Dankbarkeit ihr gegenüber entband - weit vor Rousseau fing bei ihm an, was sich in Monet vollendete. Und das alles kann (wo die Erzählungen Giottos sich in die Schnittfolgen des Kinos verwandeln, wo aus dem räumlichen Nebeneinander seiner Rechtecke ein zeitliches Nacheinander geworden ist und man in den Kirchen der Gegenwart, den Kinopalästen, das Rechteck nun massenweise anbetet, als hell flackernde, den dreieinhalbdimensionalen Raum, und damit das Wesen der nicht nur dem Heiligen Augustinus so unverständlichen Zeit, mysteriös abbildende Fläche) jetzt zu Ende gegangen sein, war jetzt womöglich zu Ende - jetzt ließen sich nur noch die Gräber zählen, diese zum Beispiel hier, und in Ruhe betrachten: 'Ruhestätte der Eheleute Elsbeth Kühle 1923-1977', ein Doppelschicksal, bei dem der Platz, worin man den Namen des Mannes und seine Lebensdaten einzutragen gedachte, freiblieb, für Philipp in seiner stummen Verständlichkeit ebenso erholsam wie der Stein gleich daneben, mit einem Kreuz vor aufgehender Sonne: 'Unsere Ruhestätte Heinrich Kühle 1877-1941 / Zum Gedenken Fritz Kühle 1925-1944'. Ach, ganz gewöhnliches nicht fertiggewordenes Leben, hier lag es, auf, wenn man so will, den Asphodelischen Wiesen der Gegenwart, wo sich alles versammelt, was weder richtig gut noch richtig böse war oder sein wollte. Wo auch die Heroen der Vergangenheit - Cimabue, Giotto, Giorgione, Tizian, aber auch van Gogh, Cézanne, Gauguin oder Monet - trotz ihrer herausfordernd besungenen Unsterblichkeit nun im Gedränge der Allergewöhnlichsten Platz finden müssen, die über die Zukunft befinden, denn in die von Kronos regierten Obstgärten des Elysiums finden unsere Helden ebensowenig Einlaß wie in die Straf-Felder des tiefsten Tartaros, schon weil es beide, weder das Elysium noch die Straf-Felder des Tartaros, darüber scheint sich heutzutage jedermann einig zu sein, offenbar gar nicht gibt.

***

'Bruder Sonne, Schwester Mond' - dichtete der Heilige Franz in seinem Sonnengesang, dem ersten Gedicht in italienischer Sprache:

"Gelobt seist du Herr,

mit all Deinen Geschöpfen,

besonders dem Herrn Bruder Sonne ...

Laudato sie, mi Signore,

cun tucte le tue creature,

spetialmente messor lo frate Sole ...

Gelobt seist du, Herr,

für Schwester Mond und die Sterne.

Du hast sie im Himmel gebildet, hell,

köstlich und schön.

Gelobt seist du, Herr, für Bruder Wind,

und für Luft und Wolke und Himmelsblau und jedwedes Wetter,

wodurch Du Deine Geschöpfe erhältst.

Gelobt seist du, Herr, für Schwester Wasser."

Laudato si, mi Signore,

per sora Luna e le Stelle

in celu l'ài formate clarite

et pretiose et belle.

Laudato si, mi Signore, per frate Vento

et per Aere et Nubilo et Sereno et omne Tempo,

per lo quale a le tue creature dai sustentamento.

Laudato si, mi Signore, per sor Aqua ...

Franziskus schrieb dies erblindet auf dem Sterbebett, eine größere sprachliche Annäherung an die uns umfassende Natur gelang ihm, obschon er ihren Details in seinem Leben und Wirken doch so zugetan war, erstaunlicherweise nicht. Lag der Grund in der Schreibtechnik? Oder gab es da einen Mangel des Empfindens, der erst heute bewußt wird? Philipp fand kurios, daß jemand, der sich derart stark von Familie und Kindheit trennt, Naturelemente in Geschwister verwandelt hatte - fiel ihm nichts Besseres ein, um Nähe auszudrücken? Das Geschwisterliche suchte er auch unter seinen Mitmönchen, die nur in Notfällen betteln, sich aber ansonsten ernähren sollten, indem sie ein Handwerk erlernten (statt eines Gürtels zogen sie einen Strick um die Kutte) und Dienste gegen Lebensmittel anboten. Nein, zu mehr war die italienische Sprache in jener Zeit dem Anschein nach nicht in der Lage, bis zu Dante streckte sich ein weiteres langes Jahrhundert. Hatte sich gelohnt, die römische Zivilisation für so etwas zu opfern? Denn das hatte man ja getan, als man sich dem Gottesstaat zu nähern meinte: die im Theodosianischen Rom gelegte, nun endlich aufgehende christliche Saat ging auf Kosten der gesamten römischen Zivilisation, die - was immer man auch an der ihr innewohnenden Grausamkeit mit gutem Grund aussetzen mag, nicht nur in Bezug auf Zirkusspiele und Sklaverei - in vielen ihrer Regionen einem größeren Bevölkerungsteil rechtliche Sicherheit und halbwegs menschliche Verhältnisse beschert hatte, als alle Zeiten danach; und das schließt, so gern wir das übersehen, das Geschick weiter Teile der in aller Welt mißhandelten Menschheit gerade in unserem Jahrhundert nachdrücklich ein. Von den vielen angeblich so goldenen Zeitaltern davor ganz zu schweigen, die doch allesamt bloß ewige Völkerwanderung und ewiges Plündern waren, seit dem Sündenfall nichts als, wenn man so will: ewig rotes, sich quälendes Afrika. Nein, in Anbetracht dieser schlichten franziskanischen Verse müßte man weiterhin sagen, es habe nicht gelohnt, daß der Preis zu hoch gewesen war. Zur gleichen Zeit wußte der von der Vogelweide sich gegenüber der Natur aber immerhin schon zu Folgendem aufzuschwingen:

"Under der linden

an der heide

da unser zweier bette was,

da muget ir vinden

gebrochen bluomen unde gras.

Vor dem walde in einem tal,

tandaradei,

schone sanc diu nahtegal."

Doch dieses allerberühmteste seiner wunderbar atmenden, der Minne gewidmeten Gedichte stand - tandaradei - offenbar am Anfang von Walthers Karriere, und er, der Deutschland vom Po bis zur Trave befuhr, von der Seine zum elbischen Meißen und der es wie kaum ein anderer kannte, wandte sich einer heute an Heine denken lassenden politischen Dichtung zu (wobei Heine - so Philipps Ansicht - ihm gegenüber nicht selten wie ein aus einem Riesen herausgewachsener geschwätziger Zwerg wirkt). Einmal darin verwickelt, ging es in den Wirren um die Nachfolge des staufischen Barbarossa jedoch schnell schon um Loyalität, und da verwandelte sich Walthers Tandaradei in eine Tändelei mit der Macht: Er verlor Natur und Minne aus den Augen, scharwenzelte erst mit Philipp von Schwaben, dann mit dessen Gegner herum, dem, wie die Geschichte zeigte, ein wenig spät auf ihrer Bühne erschienenen Otto dem Vierten, der, leider ganz ohne die berühmte Heilige Lanze, welche inzwischen verloren gegangen war, auf der Rückreise von seiner Kaiserkrönung durch Assisi kam und den der Heilige Franziskus der Legende nach nicht einmal des Ansehens würdig fand. Walther dagegen dichtete drei Kaiserreime auf jenen zu spät gekommenen Konkurrenten der Staufer, bevor er schließlich doch zum staufischen Zweiten Friedrich überging, zum 'stupor mundi', dem damaligen 'Staunen der Welt'. Er diente sich, in beinahe einem Reflex, dem an, der im Reich über die höchste Macht verfügte. Was immer sein Ziel, er wollte von diesen Herren zumindest auch ein Stück Land, von dessen Ertrag sich leben ließ - wer will's ihm verübeln. Aber er verlor etwas, in dessen Nähe er sich vorher befand - tandaradei - und das der Heilige Franziskus nicht verlor, wenigstens nicht auf solch schäbige Weise. Walther wurde zwar berühmter, bedeutender sogar als die ihn nährenden Kaiser, deren Leistungen (die in Pisa zutage getretenen kulturellen Folgen der imperialen Anstrengungen Friedrichs, der Gemeinplatz, ihr Wirken habe, ebensogut galt das jedoch in umgehrter Richtung, eine päpstliche Theokratie verhindert) nur noch als Stufe zu etwas in der Zukunft Gelegenem zu fassen sind, das aber nie jemals rechte Gegenwart bekam - er war ihnen jedoch manifest unterlegen; ganz wie Brecht sich dem großväterlichen Stalin in Buckow unterwarf. Ganz wie Brecht war Walther freilich nicht schmierig in seinem Schmeicheln, er verstand es, die eingegangene Erniedrigung zu verbergen und einen eigenen, das eigene Denken vergrößernden Tonfall zu bewahren. Beide schmiegten sich indes freiwillig an die Macht, nicht im Entferntesten dazu gezwungen. Durfte man sich darüber mokieren? - Ein ungewöhnlicher Vielzweckstein, mit eingravierter Rose: 'Unsere Ruhestätte / Unser geliebter Sohn und Bruder Willi Schmuhts 1929-1947 / beliebt, unvermittelt und unvergessen / der Eheleute Wilhelm Schmuhts / Zum Gedächtnis unseres lieben Vaters Fritz Steinbeck'. Wer mochte sich solch Mischmasch*** ausgedacht haben? Ach, Philipp, wollte das gar nicht beurteilen, wer war er denn schon: seinem letzten Auftritt hörten, neulich in Berlin, kaum zwanzig Menschen zu. Demgegenüber und vor der lächerlich leuchtenden Maske aus Grün, die hier wuchernd alles umfaßte, waren diese Gräber, trotz ihrer beschränkten Erbärmlichkeit, fast schon Ausdrucksformen von Tatkraft.

Zur Zeit Walthers konnte man die Deutschen immerhin wohl noch nicht, wie die Mitglieder einer hier im Auftrage des Heiligen Franziskus herumreisenden Delegation feststellen mußten, so ohne weiteres als Volk halbschwachsinniger Ja-Sager bezeichnen, die allem und jedem folgten: da die Mönche die Landessprache nicht beherrschten und alle an sie gerichteten Fragen unterschiedslos mit "Ja" beantworteten, wurden sie als Ketzer angesehen und dementsprechend behandelt. Wie sollte ein mit derlei Humor gegenüber der Einfalt begabtes Volk da einem Walther sein Von-Kaiser-zu-Kaiser-Gespringe übelnehmen: weil er zahlreiche Gedichte zur Anfeuerung von Pilgern schrieb, bekam er von Friederich schließlich auch das von ihm so sehnsüchtig Begehrte, was ihm Grund zu großem dichterischen Jubel bot:

"Ich han min lehen, al diu werlt, ich han min lehen."

Das gönnte ihm Philipp von Herzen. Derart aufrichtiger Jubel wirkte in seiner Schlichtheit liebenswert, liebenswerter als das misanthropisch in Buckow abgesonderte Gegrummel Brechts, nachdem er von Ulbricht nicht bloß ein Haus sondern auch ein Theater und damit das, was er wollte, bekam. So wahrhaften Jubel über Erreichtes kann sich heute kein Schriftsteller mehr leisten, weniger als selbst die Plumpheit der baudelairsche Definition von Weiblichkeit "als Gegenteil des Dandy". Der Heilige Franz war auch nach seiner Bekehrung in noch zu fortgeschrittenem Maße "verrückt", um in solchen Zwiespalt zu geraten. Nach seinem die äußere Welt negierenden Zusammenbruch war er für solche Manöver nicht mehr - schlau genug. Auf päpstliches Drängen gab er als nicht mal Vierzigjähriger den Befehl über den groß gewordenen Orden ab, ohne besonderen Widerstand, den er, so der Klang der frühen Lebensbeschreibungen, ohne viel eigenes Zutun errichtet hatte - er war in der Tat ein Heiliger, wenn das heißt, daß er sich nicht von Schlauheit und eigenem Vorteil leiten ließ. Im übrigen ist die Natur nicht ganz so freundlich, wie der Heilige Franz sie sah - die franziskanische Missionierung Deutschlands wurde abgebrochen, weil die barfüßigen Mönche nicht mit dem rauhen Klima zurechtkamen. Und auch das In-ihr-Alleinsein-Wollen oder -Können hat etwas Absurdes: die Heiligen Eremiten, auf die man sich in solchem Wünschen beruft, aus Achtung ihnen gegenüber ist es uns heute noch teuer - sie wollten nicht allein sein, sie wollten zusammen mit Gott sein. Aber seit Gott nicht mehr unter uns weilt, macht keinen Sinn mehr, in ihrer Weise allein sein zu wollen, oder auch nur anzustreben, dies zu können. Askese ist ein unnatürlicher, ist kein gesunder von Natur gegebener, sondern ein fanatisierender, oft von Schuld herrührender Schwächezustand. Denn daß wir alle spontanes Begehren fühlen - Begehren ohne Beteiligung des Willens -, ließ uns bereits Augustinus wissen, und das heißt mehr noch, daß wir es wider Willen fühlen.

Am heute ein wenig einfältig erscheinenden Geist des Heiligen Franziskus entzündete sich jedoch das Individuum, entzündete Duns Scotus den Gedanken der Freiheit, von welcher Augustinus noch gar nichts hielt. Aber das ging auf Kosten von etwas, das, von Augustinus noch zur Natur und der zwar bösartigen aber doch vorhandenen Welt gezählt , von Franziskus einfach verleugnet wurde: dem eigenen, von ihm 'Bruder Esel' genannten Körper. Am stärksten (abgesehen von später Blindheit und qualvollem Tod) äußerte sich dieser - es läßt sich denken, daß Philipp gerade hier "genauer" hinschaute, mit der ihm eigenen, nicht wenig verzerrenden Perspektive - in seiner Begegnung mit der Heiligen Clara. Nach dem wenigen, was man darüber weiß (und nur in von der Überlieferung extrem gereinigter Form haben wir davon Kenntnis), eine Liebesgeschichte, deren Ausmaß und Konsequenz die von Dantes Göttlicher Komödie (welche sogar an ihr entworfen sein könnte) in den Schatten stellt. Doch was wissen wir schon über die Liebe: Es ist leicht sie zu verherrlichen, und ebenso leicht, sie zu verspotten. Clara Offreduccio stand, so die kirchlich tolerierte Legende, Franziskus schon zur Zeit seiner Bekehrung nahe, die Nichte des Bruder Rufinus, aus aristokratischer Familie - zwölf Jahre jünger als Franziskus, floh die Achtzehnjährige in, laut bereits den frühesten Quellen, 'einer Frühjahrsnacht' des Jahres 1212 mit einer Freundin aus dem Elternhaus, um sich bei den Brüdern einzufinden; wo ihr Franziskus feierlich die Haare abschnitt und sie, nach ihrem Versprechen, fortan das Büßerleben zu führen und ihm, dem Ordensvater, als Ordensschwester gehorsam zu sein, in Bußgewänder aus groben Tuch hüllte. Hätte Philipp so etwas mit Vera versuchen sollen? Heutzutage erschien es absurd - Vera hätte sich kaum darauf eingelassen. Oder****? Ach, wer will schon wissen, was momentan in all diesen überall entstehenden Sekten geschieht, in diesen täglich neu sich gründenden Fanclubs des Extremen. So gewiß auch scheint, daß Franz und Clara sich in der Rolle von Vater und Tochter sahen, die nach beträchtlich mehr schmeckende Innigkeit von Claras Empfinden ist an einer von ihr mitgeteilten Vision ablesbar, worin sie, an der entblößten Brustwarze des Heiligen saugend, süß aus der Brust quellende Milch sich trinken sah, bis ihr ein Teil der Brustwarze auf der Zunge verblieb, welche sich als aus Gold bestehend erwies. Philipp sträubten sich die Haare, als er es las, so sehr war die Anmut, die angestrebte 'venustas', hier vom gutartigen Wirken der Venus verlassen. Ein gewisser Bruder Stefan behauptete, Franziskus habe niemals nähere Beziehungen zu Frauen unterhalten, er hätte einzig die Heilige Clara geliebt, die er 'Christina' zu nennen pflegte. So fragwürdig solch pauschale (kirchlicherseits tolerierte und propagierte) Bewertung sein mag, sie läßt erkennen, daß in so rührend überlieferter Liebe ebenso wie in derjenigen zur Natur ein Widerspruch klafft, denn den eigenen Leib, eigentlich gehört er nicht weniger zur guten Schöpfung Gottes, wertet Franziskus (und da ist der Überlieferung vermutlich zu trauen) zum Bruder Esel ab, er fordert sogar, man müsse den Leib hassen. Statt mit Clara feiert er - ein bereits dem dreizehnten Jahrhundert entstammendes allegorisches Bild verkündet es - Hochzeit mit Nächstenliebe, Armut und Demut. Kein schlechter Tauch. Aus heutiger Sicht gehört indes schon einiges dazu, einer Versuchung wie der durch die Heilige Clara schlicht mit der Aufforderung zu begegnen, ebenfalls einen Bettelorden zu gründen, damit man sich von Orden zu Orden nahe sein könne.

Doch so geschah es: so entstand der Clarissen-Orden, als deren Äbtissin die Heilige den Leichnam Franzens schließlich beweinen durfte - eine Liebesgeschichte, deren Konsequenz die der Göttlichen Komödie in der Tat um einiges übertrifft. "Quemadmodum nescio" in den Worten des Heiligen Augustinus: auf welche Weise, weiß ich nicht. Auf die Richtigkeit der (von ihr) überlieferten Einfalt des Heiligen Franziskus gründete die Kirche, in solchen Sachen ja selbst auf Richtungsweisung angewiesen, mehr jedenfalls als man denkt, die von ihr fortan aufrecht erhaltene Trennung von Leib und Seele: Da der Heilige seiner Liebe mit solchem Geschick auszuweichen vermochte, hielt man das für jedermann möglich. Und war Augustinus noch voll Verständnis für die Sünde, wurde der Sünder fortan radikal verachtet. Und hatte sich selbst nicht weniger zu verachten. Cézannes getrennt-geschlechtlich Badende sind wohl Reflex jener vom Heiligen Franz ersehnten Brüder- und Schwesterlichkeit, über deren das Leben beschränkende Schwelle auch der arme Nietzsche, so sehr er es vielleicht im Inneren wollte, in seinem mitleiderregenden Tasten nie hinauszugelangen wußte. Ach, derlei Vorstellungen von Körperlichkeit waren für Philipp, nicht nur hier in diesem Dorf, ebenso weit entfernt wie Assisi; statt sich, als Schlafwandler im Jenseits, mit jemanden wie der Heiligen Clara dem schlichten Leben zu öffnen, mußte er über die Wirkungen nachgrübeln, die dieses kleine Mädchen aus Hamburg bei ihm ausgelöst hatte: "Komm, laß uns ficken!" Ein solcher Anfang war leider herber als der des Heiligen Franz und seiner Clara. Tja, man kann, wie es im Österreichischen heißt, schon seine paar Sacherln herauskramen aus dem sogenannten Bauch der Vergangenheit; aber es erweist sich dieser dabei meist als ein recht weiträumiges Depot, in dem noch so manch anderes rumort.

Die 'Ruhestätte der Ehegatten Franz Mösenthin Rudolf Schmuck' zum Beispiel - sonderbar; zwei miteinander verheiratete Männer? Eine weitere letzte Erinnerung an universelle Brüderlichkeit? Oder ein dummes Versehen seitens überlebender Verwandter? Vermutlich. Obwohl Dorf und flaches Land es in manchem faustdick hinter den Ohren haben, auch der schlichte Anker sprach als Denkmal eine seltsame Sprache. Ach, er wußte doch von Dorf ebensowenig wie von der Natur gewöhnlicher Friedhofskultur: was mußte man eigentlich von der Materie verstehen, um sowas zu pflegen? Worin bestanden die Mindestanforderungen, im ästhetischen, im hygienischen Bereich? Zum Beispiel Typhusbakterien - können die nicht sogar einige Monate, wo hatte er das mal gelesen, und Tuberkelbakterien sogar einige Jahre in so einem Leichnam überleben? Und wie tief muß das Grab sein, was ist die Mindestliegedauer, da gab es bestimmt Erfahrungen. Gestatteten nur ausgewählte Friedhöfe, wie derjenige von Auvers, auf denen man Künstler, Dichter und Politiker begrub, einen tieferen Blick in die Vergangenheit? War sonst nirgendwo etwas älter als vierzig? Und bleibt nicht zu fragen, wo im Bereich der Unsterblichkeit die einstigen Kirchenheiligen, die er, Philipp, auf einmal so gerne, so feinschmeckerisch geradezu, im Munde führte, die Bewohner des von Dante gefeierten Paradieses, heutzutage anzusiedeln sind? Als frohgemute Untertanen des Kronos, in verspielter Heiterkeit die Obstgärten des Elysiums bevölkernd, mag man sie sich nicht vorstellen, so sehr das christliche Paradies dem antiken Elysium ein bißchen Fleischlichkeit zu entnehmen versuchte. Und was bedeutet heute überhaupt, wenn man sich mit ihnen vereinigt? Sie schmecken auf eine Weise nach endgültigem Tod, wie es bei unseren Kunstheiligen, seit Cimabue oder dem süßen Giotto, deren Bilder ihnen größere Frische bewahrten, nicht der Fall ist: Dem scholastischen Wort fehlt diese gewisse offene Frische, so daß wir heutzutage vor allem das deutlich Verdrehte ihrer Gehirne in den Schriften der Kirchenheiligen entdecken. Die sympathische Direktheit von des Großen Ottos Heiliger Lanze, mit Hilfe derer er nicht nur die Schlacht von Birten gewann und die Ungarn vertrieb, sondern auch seiner Frau Adelheid zwischen die Beine gefahren sein mochte, um ihr einen Zweiten Otto zu machen, wurde bald selten. Bestenfalls dürfen wir ihnen Naivität unterstellen, oder daß sie - in der Erkenntniskette der Franziskaner von Bonaventura bis William von Ockham - nicht anders konnten, als den Namen Gottes übergroß im Mund zu führen. Wenn ihr Erkenntnisstreben auf die Welt gerichtet war und ihr Denken überhaupt wahrgenommen werden sollte und nicht gleich in Vergessenheit geraten, gab es nur in der Umgebung der Kirche eine gewisse Vorstellung von Erkenntnis und Überlieferung . Wollte man sich verständlich machen, mußte man mit den Wölfen heulen, in ihrer eigenen Sprache. Leider nahm ihr Denken dadurch etwas derart kunstvoll Verdrehtes und verwirrend Gedrechseltes an, daß der Mangel an Direktheit abstößt, zumal es von scharfen Polemiken durchsetzt ist, aus denen rechthaberische Bösartigkeit spricht, jede Menge sogar, häufig schon gegenüber minimal nur abweichenden Meinungen, die rasch zu blutig verfolgten Heräsien wurden - wie Peter richtig sagte, waren sie Untiere der Moral; in der rücksichtslosen Verfolgung des eigenen Karriereziels gehörten sie, der Scheiterhaufen war immer sehr nah, selbst zu den Wölfen, definierten sie sogar, wenn man so will, das mittelaltrige Wolf-Sein. Mitunter - kein Mensch weiß doch, in welchem Maße die ihnen eigene Frömmigkeit, die ihre Einsichtsfähigkeit so deutlich hemmte, nur auf Scheinheiligkeit beruhte - möchte man sie für das geringe Tempo des scholastischen Fortschritts sogar verantwortlich machen. Wohl leuchten dazwischen die hellen Gedanken, aber das Dantesche Paradies, nach heutigen Wertvorstellungen gehört es komplett in die Hölle, sogar in die christliche, müßte man sagen. Bestenfalls dürften ein paar seiner Insassen noch Platz auf den Asphodelischen Wiesen beanspruchen, oder deren modernen Äquivalent, gleich neben Marquis de Sade oder den nach wie vor ruhelosen antiken Heroen, um sich gegenüber den dort, mit laut tönenden Gestammel, mittlerweile ebenfalls herumwandelnden gewöhnlichen Bewohnern von Dörfern und Städten zu behaupten.

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Was bedeutet es also, wenn wir, schlafwandelnd im Jenseits, uns dennoch mit ihnen vereinigen, ihnen also weiterhin die Unsterblichkeit gewähren, diesen von Grund auf verwirrten Gesellen, diesen Kirchenvätern und Propheten, deren wirre Ratlosigkeit schon den Skulpturen des Giovanni Pisano eingeschrieben ist, der ihnen zu greifbarer Bildhaftigkeit verhalf? Trotz der zahlreichen Bilder, die es von ihnen gibt, haben sie nicht die Präsenz unserer Kunstheiligen, ihr Ruhm, ihre Leistungen blieben fleischlos, wenn sie es nicht sogar schon immer gewesen sind. Von van Gogh vermag man noch heute zu schnuppern und schmecken, in der Provence oder in den Feldern um Auvers, von seinem Grab konnte Philipp sogar Blätter pflücken, die Atome von ihm enthielten, etwas von seiner ursprünglichen Substanz, und durfte sogar hoffen, sie sich in bewährter Kannibalenart einzuverleiben. Das gelingt bei unseren Kirchenheiligen nicht, ihre Studierstuben sind seit Jahrhunderten penibel ausgefegt, leer wie das Sterbezimmer des Thomas von Aquin, das, tausendfach durchfeudelt und rigoros desinfinziert, nichts mehr von der fleischlichen Existenz einer wirklichen Person spüren ließ, als Philipp es mit Franka, Cornelia und Christiane besichtigte. Man verläßt so einen Ort - anders als die Felder von Auvers - mit einem unberührten Achselzucken. Das Fleischliche an der Existenz unserer Heiligen ist Geist geworden, reiner Geist, fleischlos im Tragen einer sich immer mehr verwirrenden Idee. Vielleicht macht genau das - vielleicht der letzte Sieg der Kirche, die das Fleisch in ihrer Überlieferung getilgt hat - aber heute wieder ihren Reiz aus. Selbst der Weltzugewandtheit eines Franziskus ward das Fleisch zum Bruder Esel. Durch die Stigmata Christi wurde es zusätzlich entstellt, auf jedem seiner Porträts sichtbar, wie um zu beweisen, daß nichts Natürliches ihm anhaftete, obwohl er der Natur so zugewandt war. Überhaupt diese Stigmata - was genau war davon zu halten? Glaubte ernstlich je jemand, sie beruhten auf einer Intervention Gottes? Was waren sie sonst? Fügte Franziskus sie sich selbst zu? Was würde das aus seinem Denken machen? Auch heute wagt man kaum, es auszusprechen, ganz als könne Einen die Kirche noch immer in die Hölle befördern, eine Circe des bohrenden Verstands, die jedermann in ein Schwein zu verwandeln bereit ist, wer den Blick nicht genügend verstellt. Das Wirken der Heiligen Lanze bleibt auf den Kriegsschauplatz beschränkt.

Doch nicht nur die Kirche reagiert so, in der Gelehrtenwelt und ihrer Priesterschaft ist derlei nicht weniger verpönt. Es gilt als unangemessene Nachtreterei, als habe unsere Vorstellung von Objektivität, die man den Scholastikern zu verdanken meint, von der Kirche mit den ersten Keimen des Rationalen auch die Trennung von Leib und Seele eingesogen und dazu noch das Gift der Circe, welches das zu offen Ausgesprochene flugs aus dem Menschlichen ausstößt. Ganz als walte auch in der Gelehrtenrepublik, und ebenso in der offiziellen Kultur, im Feuilleton, wohin man blickt, ein Bedürfnis nach makelloser Empfängnis. Dabei hat das von Grund auf Obszöne der Stigmata zweifellos den Rang einer extremen geschlechtlichen Perversion, bei der Einem das Lachen notwendig vergeht (und mit ihm jeder Rest von liebenswürdig franziskanischem Lächeln), es ist jedenfalls einem Akt wie der Masturbation, die man einem wie Franz nie verziehe, an Sündhaftigkeit weit überlegen. Haben seine Anhänger, hat seine Bruderschaft diese Stigmata erfunden, um seiner Heiligkeit, schließlich waren sie abhängig davon, unanfechtbare Solidität zu geben? In der Gelehrtenrepublik siehts mitunter ganz ähnlich aus. Oder haben seine Anhänger sie ihm, um seiner sonderbar lächelnden Heiterkeit Grenzen zu setzen (die gewiß nicht wenigen unheimlich war), sogar im Fleische zugefügt? Nichts mehr davon ist feststellbar. So daß sich nunmehr jedermann aussuchen darf, ob man Fransziskus für einen Scharlatan hält oder einen wirklichen Heiligen, ganz wies Einem beliebt. Wie im Falle seines, Philipps, Vaters und den möglicherweise von ihm im Krieg begangenen Verbrechen geht es mal wieder nur durch den Glauben, geht es nur durch höchst subjektives Einschätzen oder bedingungsloses Vertrauen, und abermals begegnen wir hier einem soliden Rest Mißtrauen, das durch nichts aus der Welt zu schaffen ist, wenn man sich einen objektiven, einen scharfen Blick für sie bewahren will. Und so einen Blick muß man sich heutzutage bewahren, sonst gibt man etwas Wichtiges ab. Irgend jemand, und nicht nur Einer, hatte Dreck am Stecken, und das schließt den Heiligen Franz leider wohl ein, obgleich wir gerade ihm und seinem Orden den Glauben an die Notwendigkeit unseres schärfsten Blicks verdanken. Bereits auf den frühesten Bildern sind ihm die Wundmale Christi eintätowiert, jeder Künstler hatte ihn damit zu versehen, auch Giotto, als hätten sie die Funktion eines copyright-Symbols, mit dem die Kirche auch nach seinem Tod über seinen Körper verfügt, für immer: einen so Tätowierten, kann, bei aller Weltzugewandtheit, niemand sonst mehr als Eigentum reklamieren. Nach allem, was wir wissen, entsprach dies sogar Franzens Selbstsicht. Warum vereinigen wir uns also noch immer mit diesen Heiligen, die so etwas veranstalteten oder durchgehen ließen? Warum wird der fromme Betrug, die berühmte pia fraus des Mittelalters, die zum Erlangen der Heiligkeit nicht selten notwendig war, noch immer mit sonderbarer Nachsicht belächelt? Weil die Verwirrtheit dieser Heiligen ein Spiegel unserer eigenen ist, und ihr bißchen Erkenntnis, die paar hellen Gedanken, die in ihrer Verkettung eher wie Unkraut wirken und nicht wie dem Licht zielstrebig entgegenwachsende Pflanzen, ein Maß für die Geringfügigkeit, für die geringe Strahlweite unserer eigenen Anstrengungen? Für das aufgeblasen beschränkt Hochstaplerische daran, das geradezu notwendig großteils verbitternd Beschränkte, dem nur pia fraus zu größerer Geltung verhilft? Und weil wir ihnen entnehmen, daß schon so ein bißchen Erkenntnis - heute reizt sie gewöhnlich grad mal zu einem schrägen Adjektiv oder einem den Gedankenfluß verlangsamenden Relativsatz - einst die Konfusität eines ganzes Leben, die genaue Beschaffenheit seiner Fleischlichkeit spielte gar keine Rolle, zur Voraussetzung hatte?

Die eigene Unsterblichkeit mit Hilfe einer Kirche aufzubauen, soviel wissen wir heute klar zu erkennen, ist ein heikles Geschäft; schon weil es zu viele Gegner gibt, die ebenfalls in die Zukunft drängen und die man daher vernichten muß. Daß der Heilige Cézanne den Heiligen Gauguin nicht mochte, mutet da noch ganz harmlos an, mußte er doch spüren, daß dessen Weltsicht nicht der seinen entsprach, daß der Wagemut von Gauguins Lebensentwurf seiner eigenen Ängstlichkeit um Beträchtliches überlegen war. Die Frauen auf Gauguins Bildern weisen nicht mehr die Unberührbarkeit der vage noch immer an religiöse Ordensschwesternschaft erinnernden 'baigneuses' auf, man sieht ihnen an, daß, wie Gauguin schrieb, sie sich gelegentlich für ein Kleid auf den Rücken legten. Aber dennoch hat auch Gauguin versucht, sie zu Heiligen zu machen und dies erstaunlicherweise sogar geschafft: dafür mußte er jedoch den nach wie vor realistischen Aspekt des Impressionismus aufgeben, dem Cézanne und Monet ergeben blieben. Während die Bilder seiner Kollegen mehr oder weniger treue Übertragungen reiner Sinneswahrnehmungen darstellen wollten, suchte Gauguin in seinen den Ausdruck eines Sinnbezuges, der wacker über einer Wirklichkeit stand, darin man für schon ein Kleid bekam, was ein Mann seiner Art sich noch von einer Frau erhoffen konnte. Obwohl er, den eigenen Äußerungen zufolgef, um der unverbrauchten Landschaften willen in die Südsee fuhr, meinte er damit wohl vor allem die Unverbrauchtheit der ihm dort zugänglichen Weiblichkeit, die ihn so überzeugte, daß er von ihr schrieb: "Sie ist sehr subtil, sehr wissend in ihrer Naivität, die tahitische Eva. Ihr Körper ist tierhaft geblieben, wie der Körper Evas vor dem Sündenfall. Aber ihr Kopf hat die Evolution mitgemacht, das Denken hat an Raffinement gewonnen, die Liebe hat ihr ein ironisches Lächeln auf die Lippen getrieben, und naiv sucht sie nun in ihrem Gedächtnis nach dem Warum der Vergangenheit, der Gegenwart. Das sei das Unnahbare, hat man gesagt. So sei es; das kann ich akzeptieren." - Er malte nicht mehr nach der Natur. Wie ein mittelalterlicher Künstler wollte er Seelen abbilden, und indem er den Raum, die in ihm vibrierende Farbe, auf radikalere Weise veränderte als seine Mit-Heiligen, als Cézanne, van Gogh und Monet, gelang es ihm auch. Bei ihm wurde die durch Giotto in der assisischen Grabkirche geöffnete Süße des tiefen Raums, in dem Fransziskus als Teil der nicht nur ihn umfassenden Natur zu Blumen und Vögeln sprach, als seien sie seinesgleichen, wieder flach; und da er ebenfalls bereit war, auch die Farben in nichtrealistischer Manier zu benutzen - wie im Mittelalter Duccio, Cimabue oder ihre mit Goldmosaiken in byzantinischer Tradition arbeitenden Vorläufer - gelangte er zu Bildern von kräftigen Seelen, die eine Welt ebenso kräftig zu tragen vermochten wie Cézannes geschwisterlich Badende.

Aber Gauguins Bilder haben, vielleicht weil die Wirklichkeit geopfert wurde, um das Heilige gegen alle Wahrscheinlichkeit noch einmal entstehen zu lassen, einen traurigeren Klang. In ihm äußert sich ein schöner, von Widersinn geprägter Traum, von dem es für Philipp, als er seinen Südseefilm drehte, dort nichts mehr zu entdecken gab. Vielleicht fühlte er daher so klar, daß sich, wenn man im heiteren, großen Schlußakkord der aus dem Franziskanertum hervorgegangenen Kunst das Werk Cézannes durch das Gauguins ersetzt, Einem nur eine Art Moll-Bereich auftat, der über keine rechte harmonische Stabilität mehr verfügt. Auch wenn ihm Cézanne - laut Monets Entourage - am liebsten den Hals umdrehen wollte, bewunderte Gauguin der Überlieferung nach den für andere kaum zu durchschauenden Sohn der Stadt Aix: vielleicht weil er ihm nicht noch übelnehmen mochte, daß er Cézanne zumindest den Pinselstrich, seinen berühmten touche constructive, entlieh. Doch er wollte und mußte wohl die große, die heitere Grundstimmung verursachende Terz des franziskanischen Dreiklangs erniedrigen und ins Moll driften lassen, schrie die Wirklichkeit dieser Welt für ihn doch schon nach Auflösung der Harmonie, nach einer Transformation des Paradieses, sie schrie nach einem entschlosseneren Schritt in die Moderne, von der die Zerstörung jeden Paradieses der Anfang ist , der Anfang eines barbarischen Jahrhunderts, das alle in ihm entstehende Kunst in seinen barbarischen Zusammenhang ziehen und entwerten würde. Und in all das bin ich hineingeboren, seufzte Philipp, in diesen Prozeß, dessen beschränkender Logik nicht zu entrinnen war. Ach, nicht mal richtig hineingeboren, im Grunde stellte er doch nur noch die Nachgeburt dar. - Den wahnsinnigen Trompetenstößen van Goghs - der, Gauguin zufolge, wiederum Cézanne für einen Scharlatan hielt (was ihn nicht hinderte, in Arles über seinen Strich nachzudenken und in Auvers Motive Cézannes von neuem zu malen) - war am Ende dagegen wohl ganz egal, auf welchem Grund ihre Melodien geblasen wurden; und der im Vergleich zu seinen Mitheiligen nüchterne Monet, dessen tiefe, der Wirklichkeit in all ihren Schattierungen und Reflexionen abgelockten Töne den anderen als eine Art Resonanzboden dienten - auf sonderbare Weise ähnelt das amorphe Flirren seiner Bilder den in ihrem überwältigend farbigen Funkeln kaum noch faßbaren Lichtarchitekturen der großen Kathedralen - liebte wie jeder gute Grundton, neben der trivialen, ihn bestätigenden Quint, bieder vor allem die große Terz, der er - und damit dem von ihm verehrten Cézanne - mit aller Kraft zu Stabilität verhelfen wollte. Auf diese Weise wird vielleicht auch verständlich, daß ihn Madame Monet (vormals Hoschedé) in Phasen, worin ihr Mann in depressiver Unzufriedenheit Dutzende seiner Seerosenbilder zerstörte, zu beruhigen versuchte, indem sie - so die etablierte Legende - die in seinem Besitz befindlichen Arbeiten Cézannes vorübergehend aus dem Atelier entfernte. Die kleine Terz und damit Gauguins Leistung mußte, da sie in der Obertonreihe nicht erscheint, so einem in seinem Schwingen dem Heiligen der Wirklichkeit verhafteten Grundton auf beinah natürliche Weise ein Rätsel bleiben. Die Existenz Monets, der die Größe von Gauguins Leistung, für viele überraschend, nicht im mindesten verstand, ist von denen dieser vier Heiligen wohl die verständlichste.

***

Als Philipp Assisi einige Jahre später noch einmal besuchte, fiel ihm auf, daß auch im Leben des Heiligen Franziskus ein Berg eine entscheidende Rolle spielte - wie die meisten umbrischen Städte liegt Assisi auf dem Hang einer Anhöhe, dem Monte Subasio, der mit seinen dreizehnhundert Metern das weite Tal des dem Tiber zufließenden Chiasco beherrscht. Man kann sogar die ganze Stadt - Philipp fand das nach seiner Beschäftigung mit Sulla amüsant - als eine Art Bergheiligtum an der Flanke dieses Berges sehen, dessen durch die Wachstumsgrenze gezeichneter kahler Gipfel von der Ebene aus auffällig der Tonsur eines Mönches ähnelt. So daß der für Bilder ja empfängliche Franziskus in der Verrücktheit vor seiner Bekehrung mehr als einmal verzweifelt Halt an diesem Berg gesucht haben mochte, irgendwann die Tonsur dort oben entdeckend, die zu ihm sprach und ihn aufforderte, selbst zum Mönch zu werden. Das war wieder mal klassisch: Berg als Vater! Ach, Bruder Berg, hätte der Heilige Franziskus ihn wohl lieber genannt - jetzt vermochte Philipp, Folge einer inzwischen entspannteren Haltung nicht nur gegenüber Bergen sondern auch gegenüber der eigenen Kunst, darüber zu lachen. Was suchten all jene impressionistischen Maler (und auch er, selbst als ihre Nachgeburt) nur in der Natur? Am klarsten lagen, sah man es nüchtern, die Verhältnisse wohl bei Monet: diesseits des ästhetisch Erstrebten war er immer auch eine Art Jäger, der seine Familie mit dem Erlegten zu ernähren suchte. Seine Beute bestand aus den Momenten, die er der Natur beim Malen abgewann; sobald ihm aufging, wie viele solch erlegenswerter, wie viele solch einzigartiger, kostbarer Momente jedes Objekt der Natur beherbergte, schleppte er oft mehrere Leinwände an die nicht selten abgelegenen Orte, wo er, auch im schärfsten Winter, zu Werke ging. Zwangen ihn wechselnde Lichtverhältnisse, die Arbeit zu unterbrechen, konnte er so ohne Verzögerung eine andere beginnen und die vorherige, manchmal erst an einem der nächsten Tage, wenn wieder das gleiche Licht herrschte, später fortzusetzen. Schließlich veranstaltete er richtige Feldzüge, mit deren Beute er seine Familie schließlich immer besser ernährte - zwei eigene und sechs von Alice Hoschedé mit in die Ehe eingebrachte Kinder halfen manchmal beim Leinwandtragen, wenn er sich vor ein Objekt begab, um davon mehrere Ansichten gleichzeitig zu malen, jede davon Ausdruck einer sonderbaren Suche, nicht eigentlich nach "Vervollkomnung" dessen, was andere Maler an der Natur vor ihm gesehen hatten, wie ja oft leichthin gesagt wird (und wie es bis weit in die Renaissance ja gegolten hatte), sondern ganz eindeutig auf der Suche nach der Gestaltung von (wie auch im Falle Cézannes und van Goghs) noch unklar gefühlten Werten. Dabei war er nicht nur erfindungsreich, in seiner systematischen Ausführung blieb es auch auf platte Weise verständlich. Ohne darüber zu wissen, hatte Philipp von einer ähnlichen, auf Film bezogenen, Existenz geträumt, aber ihm gelang nie, sich zu einer solchen durchzukämpfen, auf dem Weg dahin war er steckengeblieben. Und fast verhungert. Er war gescheitert. Inzwischen glaubte er, daß sich die Natur in den Wirren dieses Jahrhunderts gewissermaßen erschöpft hatte, es schien jedenfalls keine Bilder mehr von ihr zu geben, die sich in der geduldig den Moment erkundenden Weise Monets abzubilden lohnten - was immer man versuchte, es endete unweigerlich im Kitsch. Oder in menschenverachtender Werbung für Zigaretten-, Schokolade- oder Waschmittelsorten. Es gab in ihr nichts mehr zu holen, was sich auf direkte Weise und aus sich selbst sprechend zur Beute machen ließ, so sehr man sich auch bemühte, und ihr wohnte auch keine metaphysische Qualität mehr inne: Das Zeitalter des Heiligen Franziskus war zu Ende. Und damit das Zeitalter der Herrschaft des Raums. Jetzt begann die Herrschaft der Zeit, begann wieder - Melville hatte ganz recht: Jerusalem*****. Einzig die Suche, wenn man so will: die Sucht der Künstler nach Form versöhnt darin noch mit der Grundtextur unserer Welt. Mag schon sein, daß die Heilige Clara, die von der Kirche zur Schutzheiligen des Fernsehens bestimmt worden ist, dies noch einmal aufzuhalten vermag, es wär ihr zu gönnen - wäre nur nicht zu vermuten, daß aus ihrer Ernennung noch immer ungebrochen kirchliche Sehnsucht nach einer alle Kanäle füllenden geschlechtslosen Liebe spricht . Allerdings hatte Philipp bei seinem Herum-Mäandern auf dem Weg zu solch trüber Erkenntnis inzwischen an Demokrit noch einiges andere gefunden, was ihm erstaunlich vorkam: "Unglückseliger Verstand: von uns, den Sinnen, nimmst du deine Beweise und streckst uns damit nieder. Dieses Niederstrecken ist dein eigener Fall." Es war ein Satz, den er nicht recht verstand, insofern gar nicht mal unähnlich dem Protagorasschen vom 'Nicht-Seienden' als insoweitigem Maß der Dinge, als man an ihm erkenne, wieso die Dinge 'nicht sind'. Dennoch fühlte er sein persönliches Dilemma in diesem Demokritschen Spruch auf eigenartig klare Weise ausgedrückt, und nicht nur seines, auf seltsame Art, da gab es gar keinen Zweifel, sogar das der ganzen Menschheit - allein: er verstand es trotzdem nicht. Er wußte nur, daß er sich mit seiner Arbeit in ein hochvertracktes Terrain begeben hatte und darin bei noch immer hochlebendigem Leibe fast umgekommen war. Vielleicht konnte er sich ja noch retten.

"Oh vana gloria de l'umane posse!

com poco verde in su la cima dura,

se non è giunta da l'etati grosse!

Credette Cimabue ne la pintura

tener lo campo, e ora ha Giotto il grido,

sì che la fama di colui è scura."

hieß es über die Aufeinanderfolge Cimabue und Giottos in den spröde klingenden iambischen Elfsilblern, deren Fünffüßigkeit Dante 'zwecks Paradieserreichung', wie es sich im Prager Kanzleideutsch vielleicht geschickt ausdrücken ließe, zum Metrum seiner Terzinen wählte; oder in nicht unbedingt inspirierter Übertragung, die aber dennoch recht klar den kaum verstandenen Gedanken vom seltsamen Segen wiedergibt, den eine kulturlose Zeit für das Ansehen der ihr unmittelbar vorangegangenen Kunst haben kann - vielleicht bot das ja momentan einigen Trost:

"O eitler Ruhm der menschlichen Begabung;

wie schnell vergeht das Grünen seines Gipfels,

wenn hinter ihm nicht rohe Zeiten folgen!

Das Feld der Malerei zu halten, dachte

einst Cimabue; jetzt rühmt man nur noch Giotto

so daß verdunkelt wird der Ruf des ersten ."

Und was war mit den Särgen: war gut, wenn sie schnell verrotteten? Nahm man deshalb am liebsten weiches Nadelholz, zumal es am billigsten ist - und was ist mit Plastikfasern in der Kleidung: wählte man zum Bekleiden der Leichen seit einigem lieber Papier? Auch eine Direktive von irgendwo? In Form, ha, eines Dekrets der sich anbahnenden Herrschaft der Zeit, als Dekret aus dem fernen Über-Amerika? Wann konnte ein Grab neu belegt werden, zehn, zwanzig, Jahre? Hatte ihm nicht mal jemand gesagt, daß es in Preußen sechzig Jahre waren? Wer war das noch mal - etwa Thomas? Und die auf ihren Grabsteinen so namenlosen Kinderleichen, benötigten die zwei, drei Jahre, um sich zu zersetzen - und Erwachsene zehn, fünfzehn? Ging das proportional zur Körpermasse? Sollte er auf den eigenen Grabstein einmal wie Sulla schreiben lassen: "Kein Freund hat mir soviel Gutes getan und kein Feind soviel Böses, daß ich sie nicht in beiden übertroffen hätte." Sullas Grabstein war längst ebenso unwiederbringbar verschwunden wie die Grabsteine des hier in früheren Generationen erzeugten dörflichen Gestammels - verewigt hatten ihn, durch das ihnen eigene große Geplapper, statt dessen die Historiker. Erst sechs Wochen Fäulnis, dann, so war es wohl, beginnt das Werk der Verwesung; doch was verrottete zuerst, erst das Hirn, erst die Gedärme? Und was taten die Würmer? Aber bald riecht die Leiche kaum noch nach Buttersäure, sondern mehr und mehr modrig, nach Erde und Pilzen. Was wird getan, wenn man ein Grab gräbt und altes Gebein findet? Legt man die Knochen erst mal beiseite und vergräbt sie danach mit dem neuen Toten? Gibt es Richtlinien für sowas? Erde drauf, fertig? Und wer bezahlt das alles? Was mag so eine Familiengrabstelle kosten: im Jahr, im Jahrzehnt, für ein Jahrhundert? 100, 1.000, 10.000, 100.000 Mark? Sind die Gebühren überall gleich? Werden sie jetzt, nach der sich anbahnenden Vereinigung in beiden Teilen Deutschlands, womöglich in ganz Europa, einander angeglichen? Sollte er versuchen, noch eine Art Schlußmonolog für seinen Sulla schreiben, in dem der Geist dieser vermessenen Grabinschrift atmet? In dem Einem die darin enthaltene Selbstgefälligkeit um die Ohren geschmiert wird? Eine Art Lenin-Stalin-Breschnew-Monolog, der zu allem seinen Senf gibt, mit einem guten Schuß Mao-Tse-Tung, weil niemand mehr seinem Hervorbringer zu widersprechen wagt? Produziert von, wie im Fall der im Mittelalter versunkenen Kaiser nicht bloß einem "Liebling" oder dem "Staunen" der Welt, sondern nunmehr den "Siegern" der Geschichte, den Siegern über die Zeit, die in ihrer persönlichen Existenz den eigentlichen Sinn historischen Wirkens entdecken. Das dürfte natürlich nicht mehr in der Natur stattfinden - schon, weil derartiges unnatürlich ist? Egal - derlei war Sache des Arbeits- und Schlafzimmers, Philipp der Zweite im Escorial: "Sie hat mich nie geliebt!" Mein Namensvetter - Ha! - Don Carlos - als Schüler hatte Philipp das nämlich von einem gewissen Gründgens im Theater inszeniert gesehen, in beeindruckender eisiger Eleganz. In Berlin gab es, in Dahlem, einen bemerkenswerten Tizian von jenem Zweiten Philipp, die Orgel spielend und nach einer großleibig nackten Frau sich zurückdrehend, nach einer in verführerisch-voluminöser Textur herausmodellierten Venus mit Cupido, ein in seiner Verklemmtheit zwischen gewissermaßen zwei Partizipien, worin er sichs trotzdem traut, verwegenes Bild. Hundert Jahre danach war die Kirche von der Kunst schon verlassen, von der Bild-Kunst zumindest - die Musik hielt es als Zeit-Kunst länger darin aus. Weil sie sich von Klerikerhirnen weniger leicht reglementieren ließ, weil Musiker daher leichter ein Gefühl für Freiheit sich zu bewahren wußten? Und forderte der Heilige Franziskus die Gläubigen noch guten Muts auf, "ohne Worte" zu beten, war die kirchliche Andacht längst zu etwas mit Bildern bloß Illustriertem geworden, unseliger, verordneter Rosenkranz. Und Urnenbestattung, wie paßte das ins konventionelle Bild - wie verrotten Urnen? Hat man versucht, Plastikmaterial zu benutzen - was wird aus Plastik in zwanzig Jahren? Das ließ sich wohl noch in zweitausend Jahren bewundern, wie römische Sarkophage - muß sehr schick aussehen, so eine Sammlung von Plastikurnen. Auf einmal erinnerte Philipp, daß das mit Onkel Rudi und seinem Nicht-mehr-richtig-gehen-Können gar nichts mit verlorenem Krieg zu tun hatte, stattdessen hatte ihm, und zwar erst in Stansfurt, ein Bierkasten den Fuß zerquetscht. Nein, er bezog zu viel auf diesen Krieg und diese nun endlich doch toten Nazis.

Gab es Bestattungsbücher? In zum Beispiel dem Friedhofshäuschen dort hinten? Es war geschlossen - früher führte die Kirche solche Bücher, als Symbol für die Zeit, aber Kirche gabs ja hier, wie's aussah, nicht mehr. Lagen sie nun auf dem Ortsamt? Oder hatte man sie vernichtet, schon aus prophylaktischen Gründen, wegen mit Erbschaft und Enteignung verbundenen Ängsten? Und die Jungen wie er - ach, er war ja nicht mehr so jung - wußten gar nix. Kannten nur das halbidiotische Gebrabbel ihrer halbidiotischen Familien. Das ganze familiäre Leben ist doch in Auflösung. Wiesenkräuter, Eibe, Lebensbaum, hinten eine kleine Hecke - Hauptsache, es wuchert kein Unkraut, das ist Grabpflege, ist delegierbar. Und im Sommer die Blumen gießen! Spitzahorn war hier in Röben der Friedhofsbaum, nicht Pappeln, die es überall sonst seit klassisch-griechischen Zeiten sind - beschneidet man sie falsch, gehen sie ein, denn sie wurzeln flach, sind empfindlich gegenüber Änderungen im Grundwasserspiegel. Auch in Amerika gab es Pappeln. Hätte er besser gefunden, wenn statt des Ankers ein Denkmal des Heiligen Franz an der Dorfkreuzung stünde? Eher wohl nicht. In der Nähe des Ausgang entdeckte Philipp einen weiteren Grabstein mit dem Mädchennamen seiner Mutter: 'Ruhestätte der Ehegatten Minna Fritz Schüler' - und gleich dahinter eine 'Ruhestätte der Ehegatten Gustav Schüler', neben einem Stein mit der Inschrift eines ihn auf einmal elektrisierenden Gottfried Schüler, der 1927 gestorben war: 'Schiffahrtsinspektor' - sein Urgroßvater? Der seinen Sohn, es mußte Philipps Großvater sein, als Kapitän protegierte? War sein Großvater, der übergroße Steuermann, in Wirklichkeit das verzärtelte Kind von Protektion? Gab es sogar in dieser Einfachheit noch Protektion? Oder handelte es sich bei diesem Gottfried um einen Ur-Onkel? Und was war mit den danebenliegenden Schülers - nein, aus den Vornamen und Todesdaten ließ sich nichts Rechtes zusammensetzen, er mußte mal seine Tante anrufen. Deren Mann man in Hamburg an genau dem Tag begrub, an dem er, Philipp, van Goghs Friedhof besuchte. Seitdem hatte Philipp nichts von sich hören lassen - immerhin: hier lagen Schülers! Plötzlich ergriff ihn eine ungewohnte Art Stolz: Ja, ich bin auch so ein Schüler! dachte er - ich müßte mich hier begraben lassen! Das wäre Ausdruck von Freiheit. Vielleicht war Blut ja doch dicker als Wissen! Ja, ich bin kein Heiliger und werde es nie werden, auch kein Künstler, denn ich werde immer ein Schüler sein. Mit oder ohne, mit oder gegen die Natur. Und zwar, weil ich Einer bin. Der ewige Schüler - immerhin! Besser jedenfalls als ein Jünger. Und jetzt noch aufs Ortsamt und rasch ein wenig in Genealogie herumschnüffeln . . . doch dann wurde ihm wieder klar, daß dieser Ort bloß ein schäbiges Bauern- und Schifferdorf war, worin sich die Menschen nicht aus Stolz oder als Sieger über die Zeit sondern aus Notwendigkeit zusammenfanden, eine Versammlung von Unfähigen, die es in der Stadt zu nichts brachten - hier gab es nichts zu erschnüffeln. Die Notwendigkeit von allem lag auf der Hand, hier gab es keine auch einen Fremden interessierenden Verwicklungen, bloß eine Fülle zusammengestoppelter Schicksale, die sich nicht fassen ließen, am wenigsten durch das, was man "Geschichte" nennt - nein, hier gab es keine Geschichte! Hier gab es keine Zeit. Selbst die Geburtsurkunde hatte er, als er einmal eine benötigte, sich aus der Kreisstadt schicken lassen müssen, aus Tangerhütte, seinem nächsten Ziel. Nein, hier gab es nur dies Gestammel, genug jetzt: er lebte --- raus nun aus dem Friedhof: und zurück auf die Straße, die breite Straße der Welt, auf der man hoffentlich nie verlassen wird.


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