K.Wyborny

VEREINIGT

VORWORT DES HERAUSGEBERS


Endlich ein einfaches Buch, wie alles Einfache in drei Teilen - Hölle, Fegefeuer und Paradies - und zudem über einen der glücklicheren Momente des neuen Europa, die Wiedervereinigung Deutschlands; nicht aus der beschränkten Sicht der Opfer freilich, wie wir es schon fast zu gewohnt sind, sondern zur Abwechslung aus der Perspektive der Täter, denen naturgemäß ein besserer Überblick über so ein Geschehen gegeben ist, und daher kinderleicht zu lesen. Für Erwachsene - die nun einmal, da sie selber unausweichlich dem Jenseits zustreben, über weniger Zeit als Kinder verfügen - mit seinen 700 Seiten leider ein wenig lang; daher hat sich der Herausgeber dazu durchgerungen, dieses Buch (statt es, wie man es vielleicht ebensogut hätte tun können, durch ein geschmackvoll-entschlossenes Lektorat rigoros auf ein Viertel zu kürzen) mit einigen schillernden Anmerkungen zu versehen, nicht weil der Text sonst unverständlich wäre (das ist er nicht, im Gegenteil, er ist, ich wiederhole es, mit gutem Gewinn grade von Kindern zu lesen), sondern um dem Leser gewissermaßen Rastpunkte anzubieten, an denen er sich zur Entspannung erholen kann - ganz wie einst den Pilgern auf ihrem mühsamem Weg nach Santiago de Compostela, worauf sich im Mittelalter manch einer schmerzhafte Blasen holte, ebenfalls eine Fülle bemerkenswerter und schöner Rastpunkte geboten wurden, von den Herren des damaligen Religionsempfindens, an denen sie sich wohl fühlen und entspannen konnten und, um im Bilde zu bleiben, die eine oder andere lästige Blase kurieren. Ich meine selbstverständlich die wunderschönen Kirchen und Klöster, die einstigen Herbergen gibts ja nicht mehr, am Rand dieser manchmal, weil die Pilger oft Jakobsmuscheln zu essen bekamen, auch Jakobsweg genannten Route mit ihrem noch heute glänzenden, gewöhnlich aus grobem Stein gehauenem Bildwerk, dem die Kunst Europas ihren eigentlichen Aufschwung verdankt. Und so habe ich mich bemüht, diesen Anmerkungen, oder nennen wir sie, da die Pilger von einst offenbar vornehmlich zu Fuß unterwegs waren, ruhig Fußnoten, ebenfalls den Rang von Kunstwerken zu verleihen, oder zumindest so viel moderne sprachliche Eleganz bzw. sprühenden Witz, wie nur möglich, so daß man sich als moderner Leser darin auf ausgesprochen moderne Weise wohlfühlen kann. Mit allem Komfort gewissermaßen, wie man scherzhaft auch sagen könnte.

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Denn dem eigentlichen Textkörper wohnt, bei aller kindhaften Klarheit, seinem schwer zu fassenden Ziel gemäß (nichts weniger als dem Paradies, und die Gelehrtenwelt ist sich ja darüber einig, daß es ein solches Paradies gar nicht gibt), etwas schwerfällig Bußfertiges, wie es wohl bei jedem wirklichen Autor der Fall ist, inne, dessen Existenz man zwar ohne Einschränkung begrüßt - schon weil wir selber gern ein wenig bußfertiger wären -, welches in allen Details nachzuvollziehen aber nicht jedermanns Sache ist. Eiligen und anspruchsvolleren Lesern (auch Kritiker und Lektoren dürfen sich wegen des Reichtums ihrer überlegenen Kenntnisse mit gutem Gewissen dazu zählen) sei daher empfohlen, sich gleich von Fußnote zu Fußnote zu hangeln, wie auf einer zügig dem Himmel entgegenstrebenden Jakobsleiter, ließe sich in einem anderem, dem soeben benutzten verwandten Bild sagen - Sie werden nichts wirklich verpassen, im Gegenteil, auf dieser extra für Sie eingerichteten Leiter werden Sie das Paradies viel müheloser erreichen, als wenn Sie den Text ganz lesen würden, und vor allem um Vieles weniger erschöpft, was auch nicht schlecht ist, wie jemand der den ganzen Weg mühsam zu Fuß durchschreiten muß, denn in Galizien ist es recht regnerisch, was für die in diesem Buch angesprochenen Teile Deutschlands leider nicht weniger gilt, obwohl man im Text kaum etwas davon mitbekommt. Und so läßt sich denken, daß auch bereits eine preiswerte Sonderausgabe für Senioren oder solche, die bald ins Gras beißen, in Planung und teilweise sogar in Arbeit ist, welche allein aus diesen Fußnoten besteht*, denn wer will heute schon von einem Rentner erwarten, daß er den ganzen Weg bis Compostela - immerhin mehrere Tausend Kilometer - zu Fuß geht. Auch die Rentner sind nicht mehr, was sie einmal gewesen sind, wovon nicht nur eine Unmenge Politiker das eine oder andere Lied zu singen vermögen. Zumal das Grab des Heiligen Jakobus, das einen am Ende des Weges erwartet, von der Wissenschaft in der ihr eigenen lautstarken Schlichtheit bereits zum Riesen-Betrug erklärt worden ist. Der Heilige Jakobus ist wohl in den Himmel gelangt, offenbar aber nicht nach Santiago de Compostela: Weil er in seiner Eile die Himmelsleiter benutzte, hat er es nicht einmal selber bis an sein Grab geschafft. - Wozu, fragen Sie, also überhaupt noch der übrige Textkörper, warum nicht gleich diese praktische "Jakobsleiter" für Rentner und solche die es möglichst schnell zu werden beabsichtigen, bevor sie dann doch ins Gras beißen? Warum heutzutage überhaupt jemandem zumuten, bei irgendwas eine Lungenentzündung zu riskieren? Gibt es nicht modernere Medien als so einen beschwerlichen Weg, der zudem bloß in die Irre führt? Könnte man so etwas nicht besser durch einen Film darstellen?

Nun ich meine, daß auch jener Jakobsweg nach Santiago de Compostela, so überflüssig (um nicht, wie die Wissenschaft, sogar zu sagen, daß er ein ausgemachter Betrug ist) er im Grunde in heutigen Augen bereits erscheint - schon weil ihn niemand mehr in voller Länge durchschreiten will, außer vielleicht um damit anzugeben -, dennoch eine gewisse Existenzberechtigung hat, sogar in unseren Tagen. So gewiß es dem modern empfindenden Menschen mehr Freunde bereitet, die glänzenden Kunstwerke an seinem Rand - Poitiers, Angoulême, Périgueux, Conques, Cahors, Souillac, Beaulieu, Moissac, um von anderen und vor allem den vorzüglichen spanischen Teilen fürs erste zu schweigen, schon weil ihre Großartigkeit leicht die Grenzen dieses knappen Vorworts sprengen würde - mit Sach- und Kunstverstand in einem gut geschnittenen und nicht schlechter photographierten Film angeboten zu bekommen (und zwar ohne die lästigen Zwischenwege, auf denen es rein gar nichts zu sehen gibt), weil man als Moderner grade dann die Essenz so eines Pilgerweges erkennen kann, die Essenz so einer Vereinigung mit dem Überirdischen respektive sogar dem ausgesprochen Himmlischen, so gut tut es doch auch, einige dieser Orte auch selber mal bei Gelegenheit aufzusuchen, um sie, gemächlich darin herumschlendernd, im Urlaub oder auch bloß zu Zwecken banaler Entspannung, in Augenschein zu nehmen - auf einem pittoresken französischen Markt beispielsweise, mit dem dort üblichem Trubel zu café au lait, Zwiebelsuppe, ein paar gemächlich geschlürften Pernods etc, und, warum denn nichts, der einen oder anderen Suppe aus Jakobsmuscheln, schon weil man nicht immer nur filmische Qualität (dieser würde in unserem Fall die Qualität meiner Fußnoten entsprechen) wahrnehmen kann, sondern auch der Magen zu seinem Recht kommen will und man mitunter auch etwas vom sogenannten gewöhnlichen Leben spüren möchte (dies bestünde dann aus dem corpus des übrigen Textes), in dessen schwebender Vieldeutigkeit wir uns mitunter so gut selber erkennen können, oder vielmehr das, was wir gern wären. Es gibt dort erstaunlich viel, selbst auf dem Markt vor so einer bereits im ferneren Mittelalter errichteten Kirche, was man in einem Film (respektive einer Serie ansprechender Fußnoten), und sei er noch so nicht schlecht photographiert (oder in unserem Falle, nun ja, geschrieben), gar nicht recht mitbekommt. In diesem Sinn kann man vereinfacht sagen, daß die schiere Existenz so eines kompletten Weges noch immer erstaunlich beruhigt, auch wenn ihn, wie gesagt - insofern gleichen wir alle bereits glücklichen Rentnern -, keiner mehr in Gänze gehen mag. Und niemand das auch mehr soll, schon weil am Ende ohnehin nur ein Betrug wartet. Aber bei hin und wieder einem kleinen Stück, je nach Temperament immer mal zwischen dreißig und dreihundert Metern, sieht das bereits anders aus; grade so etwas schenkt einem ein erstaunliches Gefühl von Befriedetheit, natürlich nur wenn man weiß, daß dahinter ein schwieriges Ganzes vorhanden oder zumindest einmal in Gänze vorhanden gewesen ist, an dem wir in diesem Moment einerseits symbolisch, dann aber zugleich, und das scheint mir das größere Privileg zu sein, auf sonderbare Weise auch körperlich teilhaben**. So wie sich Jesus als Sohn Gottes hatte empfinden können, werden wir dann Kinder so eines alles Mögliche umfassenden Wegs. Oder einfacher gesagt: Man spürt dabei den eigenen Körper, ohne sich ihm wirklich aussetzen zu müssen. Mag sein, daß darin noch immer eines der Geheimnisse von Literatur besteht.

Seien wir also froh, daß uns ein Autor mit all seinem Schweiß überhaupt so einen Weg gegeben hat, warum sich darüber beklagen; beneidenswert ist so einer nicht, wir geben ihn jedenfalls unlektoriert nunmehr in ganzer Länge heraus, mag der Leser - egal ob er sich noch als Jugendlicher fühlt oder gern die Prosecco trinkende Dame gibt, und um diese beiden, machen wir uns nichts vor, geht es inzwischen auf dem immer härter werdenden Markt der Literatur - damit anfangen, was er will. Im Fall meiner Fußnoten würde ich also empfehlen, an den dazugehörigen Stellen, den Anfang kann man sich ohnehin schenken, ruhig mal kurz in den Text zu schauen, vielleicht das Äquivalent von jeweils zwischen dreißig und dreihundert Metern Spaziergang, und sei es nur - ähnliches gilt für die multimediale Verpackung, immerhin enthält unser Weg, daran mag man das Zeitgemäße erkennen, drei beachtliche Filmbeilagen -, um mal zu sehen, was er so an Eigentümlichkeiten und Atmosphären zu bieten hat. Man kann sich währenddessen natürlich auch betrinken. Im Zweifelsfalle wird der Leser, nicht zuletzt darin besteht schließlich die Freiheit, sich schon das Richtige herausschneiden - ein Jeglicher nach seinem Maß. Und wie manch einer statt finnischem Wodka lieber irischen Whisky trinkt, und andere wiederum, ohne gleich langweilig zu wirken, hier und da mal ein Mineralwasser vorziehen, können sich altmodischere Leser, die mit so einer raffiniert auswählend dem Himmel entgegenstürmenden Freiheit nichts anzufangen wissen, das Ganze auch ebensogut komplett von ganz vorne nach ganz hinten durchlesen, meinetwegen auch ohne meine Fußnoten, vom ersten bis zum letzten Buchstaben, wie man auch sagen könnte; in Zeitlupe gewissermaßen und auf bislang klassisch genannte Art bieder, um nicht zu sagen stupide, oder das irgendwo abbrechen, wenn Sie sich schlau genug dazu fühlen, ich würde nicht einmal davon abraten, auch Kleinvieh macht auf dem Markt schließlich Mist und auf dem Weltmarkt, um den geht es ja in diesem Falle verschärft, erst recht. Denn wie mein Namensvetter, der große amerikanische Schriftsteller Herman Melville einst geschrieben hat, daß Seeleute erst in der Südsee (wo man als Jakobsleiter schlicht ein einfaches Fallreep zu bezeichnen pflegt) ihrem eigentümlichen eigentlichen Wesen begegnen , so gewiß scheint mir, daß dem modernen Europäer die unlektorierte Einsicht ins vereinigte Deutschland sowohl größte Genugtuung als auch größtes Versprechen bieten kann; wenn nicht sogar bieten muß, und zwar in jeder von ihm gewünschten Form, sei es in künstlerisch aufbereiteten Brocken oder in stummer Gänze.


Und sogar im Süden Frankreichs, wie ich neidlos hinzufügen möchte, wo unser Autor das meiste davon offenbar niedergeschrieben hat, in seinem, wie ich höre, recht schmucken Anwesen nicht weit von Domme in der schönen Dordogne, als Deutscher unter den vielen dort lebenden Engländern, zahlreiche davon wies so kommt Rentner, wo man daher schon leichter einmal vom Paradies träumen kann, was er uns freilich - aus welchen Gründen auch immer - ebenso vorenthält, wie die nicht ganz unwichtige Tatsache, daß es auch dort nicht selten bis in den hohen Sommer hinein ziemlich viel regnet, was den Aufenthalt in vielen dieser Häuser mitunter um ein Beträchtliches kühler werden läßt, als den meisten lieb ist. Da hilft dann oft nur noch Arbeit. Ich habe jedenfalls den von mir erwarteten Teil getan.


- PC Melville (Rechner im Ruhestand)