K. Wyborny

WAS EIGENTLICH SEHEN WIR IN BILDERN

(Text eines im Dezember 1990 im Literaturhaus Hamburg gehaltenen Vortrags)

c 1998 K.Wyborny
(Die Datei ist wegen ihrer Größe von 800KB mit Bildern in drei Teile zerlegt. Zum Offline-Browsen in der CD-Version reicht eine einzige)


 

I. DER WEG STIRBT

 

(an der Wand hinter dem Vortragenden Dia Bellini: Madonna von der Wiese)

 

Meistens wird angenommen, Bilder, die auf der perspektivischen Abbildung beruhen, gäben genau dasjenige zu erkennen, was auf ihnen abgebildet ist: ein Haus würde also als Haus wahrgenommen, ein Stuhl als Stuhl, ein Fluß als Fluß. Das ist so naheliegend, daß man es kaum hinterfragt findet - schließlich ist ja Ziel der perspektivischen Abbildung, genau diese Identität zu erreichen. Tatsächlich ist diese Annahme reichlich verwegen. Schon ein flüchtiger Blick auf Giovanni Bellinis "Madonna von der Wiese" verrät, daß es sich bei dem Abgebildeten nicht bloß um eine Mutter mit Kind in einer irgendwie interessanten Landschaft handelt: seine Teile scheinen für mehr zu stehen, für Lebenserfahrungen vielleicht oder andere von uns gewöhnlich nicht benennbare Resonanzen. Ein Haus ist jedenfalls nicht nur Haus, ein Baum nicht Baum, eine Mutter keine Mutter. Worum handelt es sich also bei diesem Mehr, das Bilder enthalten - Was eigentlich sehen wir in Bildern?

 

Die meisten Madonnenbilder sind zunächst einmal als Illustration der christlichen Grunderfahrung begreifbar: daß erstens die Menschen trauriger sind, als man denkt - deutlich im Gesichtsausdruck Marias zu erkennen, deren Vorwissen um den Tod ihres Sohns christliches Mutterglück 1000 Jahre überlagern wird - und zweitens, auch das ist ja nicht ganz unbekannt geblieben: gibt es gar keine Erwachsenen - das lenkt unser Interesse auf den kleinen Jesus, in dem, oder genauer: in dessen in Marias Muttergriff Gehalten-werden, sich wohl noch jeder Mann wiederzuentdecken vermag. Auf jeden Fall aber beginnt die Geschichte eines Mannes mit dem Abschied von seiner Mutter, und ein solcher Abschied soll den Filmteil dieses Aufsatzes einleiten.

(Ausschnitt "DAS OFFENE UNIVERSUM" auf zwei Videomonitoren)

 

Hier sind sie also, die Hauptpersonen des Films, gerade noch hatten sie hilflos versucht, ein Liebespaar zu sein - - jetzt trennen sie sich; und schon sitzt sie da, die weibliche Hauptdarstellerin, auf einer Sandbank am Rand eines warmen Korallenmeers, nunmehr allein: 'Wird schon sehen, was sie davon hat, ihren Sohn so davongehen zu lassen!' denkt bockig der junge Mann, für den sie, wo er sich von ihr trennen will, auf einmal Mutter geworden ist - denn nun geht es, wie der erklingende Kommentar verrät: 'hinaus in die fremde ferne Welt.' Und so sitzt sie da bis zur Abblende, diese nichtsahnend zur Mutter Gewordene - Robert, ab jetzt einziger

 

 

Held des Films, wird sie nie wiedersehen. Er hat nämlich einen Weg entdeckt, dem er folgen, auf dem er sich finden will, dieser Held, der noch nicht weiß, daß die folgende Sequenz 'Der Weg stirbt!' heißen wird. Als Zuschauer ahnen wir dies schon, denn wo er gehen will, öffnet sich gar kein Weg, stattdessen stapft man in hüfthohes Wasser - da verliert der Film, weil der Ton nun ausblendet, seine selbstbewußt realistische Oberfläche und wird ganz still.

 

In einer Nahaufnahme zerspült eine Welle die Werkzeuge, zart und in sachtem Schwung, mit Hilfe derer die beiden so mutig ihr Überleben haben sichern wollen - sie erinnern, schon weil die irreale Stille von Traum oder Erinnerung spricht, an das längst vergessene Spielzeug unserer Kindheit. Und nachdem sich Robert in Form einer Abblende auch von ihm verabschiedet hat, durchwatet er dies Meer aus mütterlicher Wärme, das seine Bewegungen umschmeichelnd hemmt, und an dessen Ende für niemanden ein begreifbares Ziel zu erkennen ist. Doch nun beendet Musik die Irrealität dieser Stille, und mit ihr erscheinen die Bilder, die einem nach der Trennung von zu Haus begegnen; da sehen wir sie endlich, die uns Versprochene: die ferne fremde Welt.

Filmausschnitt: ganze Sequenz (nur CD-Version / Datei Un10.avi)

(Hafeneinfahrt Liverpool als Standbild)

Eigensinnig beginnt sie an der Hafeneinfahrt von Liverpool, die Sie hier sehen können, und nur exzentrische Literaturwissenschaftler werden interessant finden, daß Redburn diesen Ort einmal passiert haben muß, der Schiffsjungenheld aus Melvilles gleichnamigen Jugendroman; und sechzehn Jahre nach dem Erscheinen "Redburns" auch sein am Schreiben von "Pierre" und dem "Confidence-Man" müde gewordener, an den Nerven beschädigter Autor, mit dem Schraubendampfer 'Egyptian' auf dem Weg nach Konstantinopel, von wo es ihn via Ägypten nach Jerusalem zog - manche meinen, Grund seiner Müdigkeit wäre seine ihn verbitternde Erfolglosigkeit. 'Exzentrischer Literaturwissenschaftler'! sagte ich, denn natürlich weiß ein Zuschauer an dieser Stelle normalerweise nicht, wie der Film endet. Fünf Jahre später wird der gleiche Robert nämlich in Anspielung einer Szene aus Melvilles "Typee" (zu deutsch: "Taipi") in ein Kannibalendorf laufen, in diesem eine schwarze, die Anarchie feiernde Flagge schwenken, um sich anschließend totzustellen; woraufhin ihn ein verblüffter Eingeborenenhäuptling mit den Worten 'Typee - mortarkee?' zur Rede stellt - in der Sprache der dortigen Einwohner, der Typee, eine Erkundigung, ob Robert die Menschen hier für gut oder böse hält. Und als dieser gleich Melvilles Romanhelden 'Typee - mortarkee!' antwortet,

was so viel heißt wie: 'Typee - gut!', wird er - ebenfalls ganz wie in dem Roman, Melvilles erstem übrigens und unter seinen zehn der erfolgreichste - von den Eingeborenen aufgenommen und nicht ins wichtigste Ingrediens der Suppe verwandelt, deren Zubereitung man in den darauffolgenden Einstellungen verfolgen kann. Nun, das alles ist Belletristik, selbstverständlich versteht man als Zuschauer kein Typee - eine Sprache, die, soviel ich weiß, inzwischen ausgestorben ist und nur noch in den Brocken dieses auf autobiographisches Erleben - Melville fuhr in seiner Jugend zur See und desertierte dabei auf den Marquesas - zurückgehenden Romans existiert: soviel vom Verhältnis von Fiktion zu Wirklichkeit und wer in ihr schließlich siegen wird. Melville jedenfalls wollte nach seiner hier in Liverpool beginnenden Reise in den Orient, die für ihn eine in die Ernüchterung wurde ('Das Meer, dem keine Aphrodite mehr entsprang', notierte er mit Bezug aufs Mittelmeer) nicht mehr als Schriftsteller leben: zurück in New York begnügte er sich mit einer Beschäftigung als Zollinspektor, ein schweigsamer, bärtiger Mann, der nach Feierabend Gedichte mit religiösem Themenhintergrund verfasste. Nun - all dies ist solchem Bild einer Hafenein- oder ausfahrt bei üblichem Sehen kaum zu entnehmen; und ebensowenig kann ein normaler Zuschauer vermuten - aber ich glaube, Sie sind keine normalen Zuschauer, sonst wären Sie nicht hier, deswegen traue ich mich, es heute auszusprechen -: daß an diesem Film schon der erste Titel ernstgenommen werden will, gleich im Anschluß an die erste Einstellung, welche übrigens, wie ich bei dieser Gelegenheit ebenfalls verraten darf, den Planeten Erde in der Schwärze des Alls darstellen soll, und zwar in Form der maximalen menschlichen Anmaßung, der eines

 

Rechtecks. Auf dem darauf folgenden Titel ist 'Ein Typee Film' zu lesen, was andeutet, daß es sich beim Kommenden um einen Film vom Typ 'Typee' handelt, einen Abenteuerfilm also, der die Welt umspannen und eigenartige Menschen aus der Perspektive eines jungen Mannes vorstellen will, also ohne allzu tief greifendes Verständnis. Nein, kein Zuschauer nimmt den ersten Titel eines Films ernst, man wäre damit auch meistens schlecht beraten - andererseits wimmelt das Leben natürlich von nicht erkannten Beziehungen, und so könnte man es sogar ein Zeichen von Realismus nennen, wenn sie wie in dem Film hier en masse auftauchen, ohne bemerkt zu werden. Soviel zur Normalität: Sie werden erkennen, daß dies eins meiner Lieblingsthemen ist, vor allem die sogenannte Normalität des Umgangs mit Bildern - doch zunächst bewegen wir uns weiter auf dem anscheinend so sicheren Grund der Kindheit:

(Video läuft wieder an)

Dort, hinter der Hafeneinfahrt nämlich beginnt etwas anderes: Sie sehen, es ist auch anders geschnitten, schneller als ein 'normaler' Film, vor allem solche mit Handlung, so schnell, daß kaum erkennbar ist, was genau eigentlich abgebildet wird. Bei dieser schnellen Montageweise, die zu gewissermaßen nur noch 'flackernden' Bildern führt, so nenne ich das jedenfalls, bekommt man dennoch die Atmosphäre des Abgebildeten mit, in einem schnellen rhythmischen Pulsieren aufeinanderfolgender Bilder, in diesem Fall dieser industriellen Anlagen, das verwirrend wäre, wenn nicht die es begleitende langsame Klaviermusik es stabilisierte und - wie Sie sehen - sogar synchronisiert: denn bei jedem neuen Klavierton, erscheint ein neues Bild - hier also beginnt etwas anderes: die Welt der Industrielandschaften, die, wenn man so will, die Wüste vertritt, in die man als kämpfender junger Mensch paradoxerweise hinausstrebt aus der Behütetheit. Hier geht es zwar absonderlich zu - das von Ihnen momentan wahrgenommene 'Geflacker' ist wohl Teil davon - dafür bieten uns aber gerade solch öde Orte die Möglichkeit, uns selbst zu finden, häufig zum ersten Mal, und zwar gerade weil einen mütterliche Wärme hier nicht jederzeit wieder umfangen kann.


 

Das Blau des Himmels verbindet dieses Flackern, das man - mir fällt jetzt nichts besseres ein - vielleicht am ehesten als 'gottlos' bezeichnen könnte, mit der nächsten Sequenz, welche mit einem Roberts Gang folgendem Kameraschwenk auf die Erde hinab beginnt. Weil kontinuierliche Schwenks vom Himmel herab etwas kitschig sind (und mit dem Weg natürlich auch der anständige Schwenk stirbt), wird, um so das Kitschige zu reduzieren, mitten in ihm auf eine Variante des gleichen Schwenks geschnitten, in einem, wenn man ihn wahrnimmt, leicht irritierenden Jumpcut - das bereitet den Text vor, der nun erklingt und dem Filmabschnitt hier als Überschrift dient: 'Der Weg stirbt, sagte jemand'. Dieser Satz hängt, da es schließlich vom Himmel herabkam, schwer über dem Bild, da aber bislang weder Person noch Autorität jenes 'Jemand' recht eingeschätzt werden können, mag es sich genauso gut um blanken Unsinn handeln - Robert, unser Held, scheint sich jedenfalls davon nicht einschüchtern zu lassen: Wie Sie sehen, überspringt er jetzt sogar einen Graben.


Dann könnte doch etwas bei ihm angelangt sein, eine kaum vernehmbare Botschaft, denn nun bleibt er stehen, am Wrack eines Segelbootes, einem Symbol beinahe von gestorbenem Weg - es ist jedenfalls kaum Überrest von Jasons 'Argo' oder des Kolumbus 'Santa Maria', von Schiffen also, die große Wege gingen, von denen aus Städte gegründet und Imperien errichtet wurden - solche Art Weg ist wohl tatsächlich und endgültig gestorben; nicht nur in diesem Film: da steht hinter unserem 'Jemand' auf einmal die unbezweifelbare Autorität der Geschichte. Und so sehen wir ihn in ihrem Schatten und auf gestorbenem Schiff: Robert - in der Blüte seiner Jungenhaftigkeit; Robert, der Was-in-der-Welt!, wie der Kommentar gleich verraten wird. Die Autorität der Geschichte scheint sogar die Kamera zu beeindrucken, denn,


wie Sie sehen, macht sie ganz unvermittelt einen sogenannten Achssprung, und zwar auf die andere Wrackseite, was sich bei normal-dynamischem Geschichte-Erzählen ja verbieten würde - wie um anzudeuten, daß sie mit solch einem Helden, der eigentlich gar nicht da sein dürfte, und einem derart albernen Weg nichts mehr zu tun haben möchte. Aber auch von diesem leicht verbotenen Standpunkt aus bleibt Robert sichtbar, und nun vernehmen wir, daß er sich nicht nur weiterhin auf einem Weg befindet, sondern auf einem solchen zudem dabei ist, sich das Wort 'Ich' zu erobern - und das, obwohl alle Wege, und mit ihnen der Weg auch dahin, längst gestorben sein müßten. Doch weil Robert nun einmal Teil des Films geworden ist und ein Film einen Helden - er mag noch so lächerlich sein - braucht, muß die Kamera - zähneknirschend und widerwillig, wenn so eine Kamera Menschliches an sich hätte - auf die richtige Seite der Bewegungsachse zurückhüpfen - sehen Sie: in diesem Moment! - und Robert auf seinem nun wenigstens film-möglichen Weg gehorsam begleiten. Im nachfolgenden Schwenk zerreißt die Welt: zwischen der bislang von uns gesehenen vulkanisch wüsten Steinlandschaft und einem erstaunt am linken Bildrand erscheinenden tropischen Blätterbüschel, mit ihm beginnt die im Film bald so genannte 'grüne Welt', in die Robert auf der Suche nach Gnade eintauchen wird. Ja, Robert ist nun tatsächlich dabei, sich das Wort 'Ich' zu erobern, am Ende des Films wird er es geschafft haben - und da ein Held jemand ist,

 

der das Wort 'Ich' ohne erröten zu müssen aussprechen darf, ist Robert, weil das Sich-Sehnen nach Gnade in unseren Augen noch immer nichts Beschämendes hat, schon jetzt zu zumindest einem brauchbaren Filmhelden geworden, dem nun jede Kamera folgen muß, wenn sie sich ernst nehmen will. Zunächst aber gilt es, die Dimensionen des Begehbaren abzustecken: die Kamera folgt also unserem Zum-Held-Werdenden und wendet ihre Aufmerksamkeit dann in einer sachten Umkehrung des Eingangschwenks, im Gegensatz dazu nun im abstrakteren Schwarzweiß, wieder dem Himmel zu, wo sie überlang verharrt: dort oben befindet sich die obere Grenze der offenen Welt, die wir bewohnen. Indes macht sich Robert schon an der unteren Grenze zu schaffen, wo er, an einer Felswand hockend, von der Feuchtigkeit der Erde zu schmecken versucht: zwischen Himmel und Erde also - das weiß natürlich jeder, aber ich möchte, indem ich es ausspreche, darauf aufmerksam machen, daß auch Gemeinplätze durch Bilder ausgedrückt werden können - muß die Eroberung des Wortes 'Ich' bewerkstelligt werden, irgendwie. Der Geschmack von Erde scheint allerdings nicht gerade Begeisterung in ihm auszulösen, ebensowenig wie Leben in Form kleiner Käfer - sein erster Versuch, in der Welt aus sich heraus erträglichen Platz zu finden, aus eigenem Recht, ist 'kläglich', wie man so nett sagt, 'gescheitert'.

 

Und so taucht das Wort 'Ich' in der nächsten Einstellung in Form eines Negativs auf: als Robert im Negativ - ein uns neuer, absurderweise kräftiger aussehender Robert, der nicht mehr Objekt, sondern Subjekt zu sein scheint und wohl auch sein will: denn nun setzt er sich seinem neuen Kraftgefühl entsprechend in Bewegung, anfangs in wieder einem Schwenk, doch dann entschlossen - aber eben nur im Negativ - in bewegungsparalleler Kamerafahrt, der Figur, mit welcher man, wie jeder Filmstudent weiß, im Film Bewegung zu maximaler Kraft verhelfen kann. Doch ach, auch sie ist nur scheinbrillant, im Negativ - die

 

Wirklichkeit brilliert dagegen in Form wildwuchernder Vegetation, der gleichgültig bleibt, welche Form von Schimäre an ihr vorüberschreitet, leuchtend im Hintergrund. Und wie vorhin in den Schwenk wird jetzt in die Fahrt geschnitten, abermals in Form eines leicht irritierenden Jumpcuts - gleich danach bleibt Robert, als hätte ihn mehr das Begreifen als die Ausführung seiner Anstrengung entsetzlich erschöpft, auch schon wieder stehen; und am Ende dieses - ach so kurzen - Scheinweges schlägt das Bild in einem weiteren, diesmal das Ende konventionellen Erzählens vorbereitenden, Achssprung wieder ins Positiv um; und da sehen wir ihn: den Mann vor dem Meer, der überlegt, ob er ins Innere, ins Höhere soll,

 

dieser Insel oder sich selbst. In der folgenden aufs neue negativ erscheinenden Totale, die von weit weg aufgenommen ist und von der Seite, wie aus der Sicht eines unbestechlich neutralen Betrachters, erraten wir, daß er sich jetzt in einer Art Trancezustand befindet, einem Moment ohne eigene Zeit, in dem Außen und Innen, Positiv, Negativ, Überlegung, Vorstellung und Erinnerung nicht mehr zu unterscheiden sind; und richtig, auch von vorn und näher dran erscheint unser Held jetzt im Negativ, wie endgültig weglos - ein bloßer Betrachter. Und

dann kommt in einem zehnminütigen Flackerstück - dessen schiere Länge an dieser Stelle im Film, nach also mehr als einer Stunde, von tiefem Wunsch nach dem Ende gewöhnlichen Erzählens spricht und dem noch seltsameren Bedürfnis, dies zu feiern - die Welt zum Vorschein, in die er sich aus freiem Willen hineinbewegt: die Ödnis, die sich in der Steinlandschaft schon angedeutet hatte. Es handelt sich um die gleiche Wüste, die er verspielt

als Jugendlicher hatte begehen wollen - jetzt jedoch ist sie nicht mehr Teil des Spiels, das endlich von zu Hause fortführen soll - sie ist Teil der wirklichen Wirklichkeit. Die Wüste wächst, muntert Nietzsche uns in ihr auf: Weh dem der Wüste in sich hat!

(Auf Standbild schalten)

Soweit also diese kurze Sequenz und was ich mir in etwa dabei gedacht habe. Man wird zu Recht einwenden, daß diese Art der Beschreibung zwar möglich, vom Zuschauer aber nicht nachvollziehbar ist. Bei Film handelt es sich schließlich nicht um ein Spiel vom Typ "Ich sehe was, was du nicht siehst." Diese Art der Beschreibung wäre zwar in den Bildern enthalten, wenn ich auf ihr beharrte, würde ich aber einen ungeschriebenen Vertrag mit dem Zuschauer aufkündigen, denn ein Zuschauer sieht nun einmal das, was er sieht, und nicht das, was der Filmmacher denkt. Was aber sieht der Zuschauer in dieser Sequenz? Ich denke, vor allem einen Weg, den er nicht mit mir gehen möchte - vielleicht, weil er es nicht kann, aber ich glaube eher, weil er ihn nicht für begehenswert hält. So gesehen habe auch ich in diesem Film einen Weg konstruiert, der kaum begangen schon gestorben ist. Ich habe das einsehen müssen - das war bitter. Als nächstes möchte ich etwas vom Ort dieser Einsicht erzählen, dem Ort des gestorbenen Weges.

Ich sage erzählen, denn ich glaube nicht, daß man sich der Frage nach dem, was man als Zuschauer sieht, wissenschaftlich nähern kann, deshalb möchte ich es über eine Verwandlung von Erfahrung in Belletristik versuchen. Im Leben gibt es ja nicht nur das Reich der Notwendigkeit, dem wir ohne Zutun folgen, sondern es gibt auch das Reich der Freiheit, in dem wir entscheiden können. Die meisten dieser Entscheidungen sind vielleicht lächerlich, aber immerhin sind es unsere eigenen. Viele unserer Freiheiten nutzen wir erstaunlicherweise dazu, unser Leben in Ketten belletristischer Ereignisse zu verwandeln - eine Verwandlung der Wirklichkeit in eine Fädigkeit, die unser Schicksal auf eine Weise umspinnt, die uns deutlich erhabener vorkommt als das Spiel dieser geheimnisvollen Moleküle, aus denen wir bestehen sollen und die nur unsinnigen Wahrscheinlichkeitsprozessen unterworfen sind. Die wenigsten von uns können der Verwandlung einer Lebensmöglichkeit in eine belletristische Figur widerstehen - im Gegenteil, wenn das Leben uns Wahlmöglichkeiten läßt, suchen wir uns doch immer Wege aus, die einem belletristischen Ideal entsprechen - das gilt für die Liebe und sogar im Beruf. Was ich erzählen werde, wird also kein Bild der Wirklichkeit sein, sondern es ist durch Freiheit verwandelte Wirklichkeit, und wenn ich im folgenden "Ich" sage, bitte ich Sie, dieses Ich nicht so einfach mit mir zu identifizieren. Nehmen sie es als belletristisches "Ich", das zufällig aus meinem Mund zu ihnen hinüberspringt und keinerlei objektive Wirklichkeit enthält. Wirklich in diesem Zusammenhang bin allein ich als der mit eingeschränkter Wahrhaftigkeit Sprechende.

***


II. IN RIMINI

 

Also - vor zwei Jahren, im Herbst 1990, war ich mit diesem Film in Rimini auf einem Festival. Als Versuch, Aufmerksamkeit für ihn zu erregen, endete dieser Ausflug kläglich. Dennoch aber fand ich mich irgendwann in einer Kirche, die Tempel des Malatesta genannt wurde.


(Videokamera: Tempel des Malatesta)

Das Gebäude ist von Alberti erbaut. Jetzt weiß ich, daß es als eine der ersten Rennaissancebauten gilt, ich weiß auch warum. Alberti hatte sich von dem auch in Rimini stehenden Triumphbogern des Augustus inspirieren lassen.

 

(Videokamera: Postkarte vom Bogen des Augustus)

Rennaissance war damals identisch mit einem irgendwie zurück nach Rom.

(Videokamera: wieder Postkarte des Tempels)

In diesem Tempel sollte es in einer Nische ein Wandbild von Piero de la Francesca geben. Als ich hineinwollte, kam Joao Mario heraus. "Ein sehr gutes Fresco!" begrüßte er mich. Einen Tag vorher hatte ich ihn ebenso zufällig in Urbino getroffen. Auch er war Filmmacher und hatte einen Film im Wettbewerb des Festivals (übrigens waren wie beide die einzigen Europäer unter den Filmmachern, alle anderen kamen aus der dritten Welt oder aus Hongkong). Wir sahen uns im Hotel immer beim Frühstück, er saß meistens allein und schien gleichfalls das Bedürfnis zu haben, aus seinem Ausflug nach Rimini mehr zu machen als eine Geschäftsreise. Ich mochte Urbino nicht. Es lag auf einem Berg und es gab keinen Fluß, der die Stadt durchschnitt. Die Stadt war mir zu trocken.

An der Bushaltestelle von Urbino regnete es, immerhin. Joao Mario fragte, ob ich die Bibliothek mit den Intarsien von Pontelli gesehen hätte. Nein, das hatte ich nicht - auch Holzschnitzereien waren mir wohl im Grunde zu trocken. Aber mich hätte eine Serie von Bildern Paolo Ucellos interessiert und ein Bild von Piero de la Francesca. "Ja, die sind sehr berühmt", murmelte er nachdenklich und: "Diese Stadt ist wunderschön", dann fuhren wir beide mit dem Bus zurück nach Rimini , jeder freilich auf eigener Route.

Das Fresko befand sich in einer Nische des Seitenschiffs und war gar nicht so leicht zu finden. Auf ihm war unter anderem ein Mann zu sehen, der vor einem anderen kniete, nicht unbedingt mein Lieblingsmotiv.

Direkt davor konnte man an einem Stand Postkarten kaufen - ich kaufte eine von dem Fresko. Plötzlich stand Joao Mario neben mir. Sehr gut, sagte er, während er das Bild noch einmal ansah. Unversehens fühlte ich mich haltlos. Ich interessiere mich wirklich nicht für vor einander kniende Männer. Dennoch war an dem Bild natürlich was dran. Aber ich kam nicht heran, in gewissem Sinne könnte man sogar sagen, daß ich das Bild überhaupt nicht sah. Mit Nicht-Sehen meine ich nicht seine Materialität: ich sah die Männer, blaue Farbe, rote Kleckse, das Bild einer Festung, aber es fügte sich nicht zu etwas ganzem, es machte nicht "Klack", oder wie man das ausdrücken soll. Es war nur Sehen, wie es mit unserer täglichen Bewegungskoordination zusammenhängt, das Sehen, das dazu dient, sich in der Welt zu orientieren und nicht mit anderen Menschen zusammenzustoßen. Aber so kann man Kunstwerke nicht ansehen, da will man etwas vom Denken wahrnehmen - das Sehen, das man dazu braucht, war mir plötzlich abhanden gekommen. Und immer noch stand dieser Joao Mario neben mir und musterte mich, als wollte er irgendwas von mir hören. Ich nahm die


(Dia Piero)

Postkarte hoch und verglich sie mit dem Wandbild, was mir eine gewisse Sicherheit gab - so etwas darf man schon einmal vor einem Kunstwerk tun. Ich wollte schon auf die miese Reproduktionsqualität der Postkarte eingehen, begriff aber rechtzeitig, daß ich dem Bild dadurch nicht eine Spur näher kommen würde. Ich hätte mich zwar einem Denken genähert, aber die Schäbigkeit von Reproduktionen zu bejammern ist ja selbst ein bißchen schäbig. Ich kam mir vor dem Zeugen meiner Hilflosigkeit immer hilfloser vor. Erst jetzt merkte ich, daß ich nur noch die Postkarte in meiner Hand ansah. Sie hatte für mich größere Materialität angenommen als das Original in der Wand - obwohl oder weil sie an Strukturen viel ärmer war, meinte ich der emotionalen Substanz des Bildes näher zu sein, wenn ich es auf der Postkarte anblickte. Das verwirrte mich noch mehr. So klar hätte ich das damals im übrigen nicht formulieren können, ich war nur verwirrt und wußte, daß irgendwas mit meinem Starren auf diese Postkarte nicht richtig war. Und ich schämte mich, daß mir das vor einem Zeugen passierte, einem, der von diesem Bild offensichtlich viel mehr verstand als ich selbst. Intarsien von Pontelli - davon hatte ich noch nie gehört. Was genau waren überhaupt Intarsien? Ich erinnere mich, daß ich ein paar mal zwischen Fresco und Postkarte hin- und herblickte und mich auf einmal das Gefühl überkam, zwischen den beiden Bildern gefangen zu sein- hin und her, hin und her - und nie mehr aus dieser Situation herauskommen zu können, gefangen zwischen Bild und Reproduktion gewissermaßen und bewacht von einem Wärter, der jede meiner Reaktionen bis ins Letzte begreifen würde. Furchtbar: ich haßte die hilflosen Hände, die diese Postkarte hielten - warum hatte ich sie nur gekauft? Wie war ich in diese Falle geraten? Am meisten haßte ich meine Unfähigkeit, etwas beim Betrachten des Bildes zu empfinden. Konnte sein, daß ich mich so an die Handlichkeit von Reproduktionen gewöhnt hatte, daß ich der Materialität eines Freskos nicht gewachsen war, daß ich ihr sogar ablehnend gegenüberstand? Ich sah jedenfalls nur bemalte Wand, aus der so etwas wie ein Bild gar nicht herauszutreten vermochte. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert und hatte nicht mehr viel von der ursprünglichen Absicht Pieros übriggelassen, aber in diesem Moment wäre mir wohl vor jedem anderen Bild das gleiche passiert - nur vor einem Monet vielleicht nicht, da bin ich ein fanatischer Empfinder. Es war ein, ich meine es mit allem Recht sagen zu können: furchtbarer Moment. Vor einer von Farbpigment irgendwie geheiligten Wand mit einem Jungen neben mir, in den ich halb verliebt war. Als er schließlich sagte: "Die Hunde sind gut, nicht wahr?" war es so erleichternd, daß ich nickte, ohne - wie ich heute denke, aber das ist, wenn ich mir die Postkarte des Bildes ansehe, natürlich unmöglich - die Hunde überhaupt gesehen zu haben. Im Übrigen ist das Dia, das Sie gerade sehen, eine Reproduktion dieser Postkarte.

Ich wiederhole, es war ein furchtbarer Moment: die Wand, die Postkarte, die schäbige Materialität der Wand, und dabei von jemandem betrachtet zu werden, von dem man weiß, daß er sehr viel mehr weiß als man selbst. Und dann noch verliebt - vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben war ich bewußt in der Position der dummen Geliebten, kein angenehmes Gefühl. "So also sieht eine dumme Geliebte ein Kunstwerk", dachte ich, "was für eine hilflose Innigkeit, die nicht das Geringste sieht!"

"Hinten ist noch eine Kreuzigung von Giotto", hörte ich Joao Mario da sagen, worauf ich antwortete: "Mein Reiseführer behauptet, er wäre Giotto nur zugeschrieben." "Nein, er ist echt, ich bin ganz sicher". In einer anderen Nische des Seitenschiffs entdeckte ich das Bild. Es hatte Kreuzform mit Ausbuchtungen dort, wo der Körper über das Kreuz hinaustrat. Ich erinnerte mich an meine Theorien zur Entstehung des Rechtecks, und weil Giotto so um 1300 lebte, fühlte ich mich einigermaßen bestätigt. Zu dem Zeitpunkt, hatte ich einmal behauptet, war das Rechteck als Bildform noch nicht etabliert. Auch Kreuzigungen waren nicht gerade mein Hobby. War es ein Giotto? Irgendwie hatte das Bild einen innigen Klang. Joao Mario trat neben mich. "Es ist ein Giotto", sagte er und ich sagte: "Ja das ist ein Giotto".

 

(Videokamera Giotto)

Da war er also, der gekreuzigte Christus. Ich hatte natürlich schon manch ein Kruzifix gesehen, auch Bilder von Kreuzigungen, hatte mich aber nie recht dafür interessiert, am wenigsten für die darauf abgebildeten Gesichter. Es schien mir immer absurd, daß Christus auf Bildern überhaupt eine Physiognomie hat - als man die Bilder malte, wußte sicher kein Mensch mehr, wie er ausgesehen hatte. Vom Standpunkt eines Photographen waren diese Bilder halbirre Spekulation. Auch für Marienbilder galt das, auch in ihnen hatte ich nie die Gesichter studiert. Ich weiß, es klingt merkwürdig für jemanden, der sich über zwanzig Jahre mit Bildern beschäftigt hat, aber es war nun einmal so. Was hatte ich überhaupt in Bildern gesehen?

Heute weiß ich, daß es ein Giotto ist, und das nicht nur weil ich es inzwischen auch gelesen hatte, sondern ich bilde mir ein, es erkennen zu können. Aber dazu mußte ich mir das Bild in Büchern genauer ansehen, und vor allem: ich mußte den Ausdruck auf dem Gesicht von Christus studieren, und das fiel mir nicht leicht.

 

(Dia Tempel)

***


III. VIRGINIA

 

Drei Monate später traf ich Virginia in den Dahlemer Museen. Sie bereiste die Welt, um den Gesichtsausdruck von Engeln auf Gemälden zu photographieren. Als ich ihr erzählte, daß ich mich ähnlich systematisch mit Verkündigungen beschäftigte, wollte sie wissen wie ich darauf kam. Ich erzählte ihr von Joao Mario und beschrieb ihr seinen Film in etwa so:

Der Film spielt in Portugal, so gegen 1600, kurz nachdem es nach der Vereinigung mit Spanien wieder unabhängig geworden ist. Die Hauptfigur heißt Heinrich, er ist König von Portugal und wird mit einer Prinzessin von Frankreich verheiratet. Die Ehe bleibt kinderlos. Der französische Botschafter, der eine Politik gegen Spanien verfolgt, die Kinder aus dieser Ehe verlangt, ist deswegen beunruhigt und erfährt, daß der König überhaupt nicht mit ihr schläft, obwohl er ein berüchtigter Weiberheld ist. Weil die neu errungene Unabhängigkeit Nachkommen verlangt, sind auch portugiesische Kreise irritiert, ohne Erben würde Portugal wieder an Spanien fallen. Zur Rede gestellt sagt Heinrich, daß er mit der Prinzessin einfach nicht schlafen könne.


(Dia Lippi)

So kommt es zu einem Prozeß, in dem untersucht wird, ob das stimmt. Sollte stimmen, was der König von sich behauptet, daß er nämlich mit der Prinzessin, seiner Frau, nicht schlafen kann, müßte man ihn für regierungsunfähig erklären, weil nur, wer mit einer Prinzessin schlafen kann, König sein darf.

Der Prozeß bildet den Hauptteil des Films. In ihm berichten zunächst eine Reihe von Frauen, wie sie vom König verführt worden sind. Dann berichteten einige Jungfrauen mit ärztlichen Jungfräulichkeitszertifikaten, von denen sich später herausstellt, daß sie zum Teil gefälscht waren, wie der König außerstande war, mit ihnen zu schlafen, obwohl sie selbst es wollten und er nicht einmal wissen konnte, daß sie noch Jungfrauen waren. Dies überzeugte das Gericht, und beschloß daraufhin, daß ein Mann, der keine Jungfrauen schänden konnte, nicht König sein durfte. Es war allerdings nicht leicht, das zu formulieren, denn ein König galt immerhin als von Gott eingesetzt, und sein Verhalten war eher fromm. Auch zum Wahnsinnigen konnte man ihn nicht so einfach erklären, deshalb wurde ein schwieriger, mir unverständlicher juristischer Kompromiß gefunden, der die Nachfolge seinem Verwandten zusprach, der als vorläufig neuer König eingesetzt wurde, während der alte König irgendwie ein König zweiter Klasse blieb und in dieser Funktion weiterhin Frauen wiederverführen durfte. Gleichzeitig bestätigte das Gericht der französichen Prinzessin ohne ärztliche Untersuchung die Jungfräulichkeit, denn die Zeugenaussagen der unberührten Jungfrauen hätten die Disposition des Königs eindeutig beschrieben, und so konnte sie kurz danach als Immer-noch-Jungfrau an den König von England weiterverheiratet werden. Es ist ein sehr komischer Film, bei dem die unbefleckte Empfängnis sich in die Unfähigkeit verwandelte, jemanden zwecks Empfangens zu beflecken. Das war der Moment, sagte ich Virginia, an dem ich mich für Verkündigungen zu interessieren begann. Ich glaube, auch daran kann man erkennen, wie es die Menschen schaffen, ihr Leben in Belletristik zu verwandeln.

 

Virginia fragte mich auch, ob ich den Donatello im ersten Stock des Museums gesehen hätte und zeigte mir eine Postkarte von einem Marmorhalbrelief von einer Mutter mit Kind.

 

(Videokamera: Postkarte Donatello)

Um die Marmorgruppe war ein dunkler Holzrahmen, der dem Ganzen wunderbar Halt gab. Die Postkarte war - ich sage das mal so schäbig - wunderschön. Als ich Virginia erzählte, wie sich, ausgehend von Joao Marios Film, mein Interesse an Verkündigungen auf deren Geometrie konzentrierte, entgegnete sie, daß sie selbst sich bei Marienbildern vor allem für den Ausdruck auf Marias Gesicht interessierte. Marias Blick würde sie immer wieder erschüttern, dieser Blick, der schon wußte, was auf sie zukommen würde, aber sie hatte ja keine Wahl. Virginia kam aus Santa Barbara und war Mutter von 4 Kindern. Auf der Suche nach ihren Engeln hatte sie gerade Prag und Dresden bereist, später bekam ich von ihr die Postkarte einer Verkündigung von Fra Paolo Lippi, die wir dort oben sehen, auf der sie ihre weitere Route beschrieb: Bamberg, Rothenburg, Würzburg, Seattle. Als ich kurz danach den Donatello im Original (und ohne Zeugen) sah, berührte mich

(Dia Donatello, gleichzeitig Videobild der Postkarte des Donatellos auf den Monitoren)

- ich weiß, auch das klingt schäbig, aber vielleicht ist es unmöglich so etwas überhaupt auszudrücken, manchmal kommt es mir vor, als wäre eine originellere Beschreibung der inneren Zustände beim Betrachten eines Bildes noch schäbiger - berührte mich also der Ausdruck auf Marias Gesicht und wie sie das Kind hielt. Vor allem aber traf mich - es ist wirklich nicht leicht, das zu beschreiben - die merkwürdige Trennungslinie, die durch die Struktur des Halbreliefs zwischen den Gesichtern von Mutter und Kind entstand. In ihr entdeckte ich einen seltsamen Schmerz. Später vermutete ich, daß die Überlänge der vorhin gezeigten Trennungssequenz des Offenen Universums genau von der Erinnerung an den in dieser Linie verkörperten Schmerz herrührte. Ginnies Interesse für den Ausdruck Marias war jedenfalls überzeugend. Auf einmal kam mir seltsam vor, daß ich bis dahin in den Verkündigungen immer nur Gabriel angeguckt hatte. Auch wenn das ein Fortschritt zu meiner vorherigen Bildwahrnehmung darstellte, bei dem ich mich weigerte, Gesichtsausdrücke überhaupt tiefer zur Kenntnis zu nehmen, mußte ich mich fragen, was für eine Art innerer Zensur da eigentlich am Werk gewesen war.

***

 

IV. DIE WÜSTE WÄCHST

 

Joao Marios Film war mit einer nach meinen Maßstäben unglaublichen Sorgfalt gemacht. Selten habe ich eine so kenntnisreiche Ausstattung und so innig wirkende Frauengesichter gesehen - in meiner Erinnerung hat die in Blaugrautönen arbeitende düstere Photographie höchste Eleganz. Der Film hat einen langsamen, tragenden Rhythmus, der dem grotesken Prozeßgeschehen auf eine groteske Weise angemessen ist. Die Dialoge wurden auf portugiesisch und französisch geführt, die portugiesichen Stellen waren französisch untertitelt, gleichzeitig konnte man über Kopfhörer eine italienische Simultanübersetzung des Französischen hören. Auf dem Balkon des Kinos saß die Jury des Festivals. Sie bestand aus Filmstudenten, deren Kurzfilme vor den eigentlichen Wettbewerbsfilmen liefen. Dies hatte sich jemand ausgedacht, dem die Inkompetenz und Verfilzung üblicher Juroren zuviel geworden war. Nun wollte man das Urteil dem unverstellten Blick der Jugend überlassen, dagegen ließ sich schwer etwas sagen, denn - wie wir alle wissen - der Jugend gehört ja die Zukunft.

Die Filme dieser Filmstudenten aus Moskau, Sofia, Bologna, Rom, Berlin, London, Paris, Havanna und Los Angeles waren allerdings so grauenhaft, daß man sich fürchten mußte. Weil Englisch die Verkehrssprache dieser Jury war, saß sie während der Vorführung auf dem Balkon und hörte sich die englische Übersetzung der Dialoge des Films an. Die Übersetzerin hatte eine quäkige Stimme und wußte, wie wichtig ihre Aufgabe war, deshalb übersetzte sie so laut, daß man sie überall im Kino hören konnte. Ihre Übersetzung ins Englische basierte auf der italienischen Simultanübersetzung der französischen Dialoge und Untertitel. Selbst mein kümmerliches Französisch konnte erkennen, daß am Ende dieser Kette um etwa zwanzig Sekunden verspäteter Blödsinn herauskam. Trotz dieser Verstümmelung hatten die Dialoge immer noch eine geistreiche Quirligkeit, die der verdrehten Schlüpfrigkeit des Sujets entsprach und sich in dem langsamen Bildrhythmus wunderbar verdrehte. Die quäkende Übersetzung war fürchterlich, nach einiger Zeit setzte ich mich im Kino ganz nach vorne - sonst nicht unbedingt mein Lieblingsplatz - und hielt mir die Ohren zu, um wenigstens diese Übersetzerstimme nicht hören zu müssen. Ich fand Joao Marios Film erstaunlich.

(Videokamera: Bellinimadonna Grün)

Einer der Juroren war ein rotbärtiger No-Nonsense Sozialarbeiter aus London. Als ich ihm sagte, ich hätte die Übersetzung als furchtbar empfunden, sagte er, Ja das stimmte, aber das wäre nur schlimm gewesen, wenn es sich um einen guten Film gehandelt hätte. Und Straub erzählte mir, ein russischer Juror hätte den Film zwar ganz interessant gefunden, aber trotzdem als schlecht, weil er nicht schnell genug geschnitten war. So bekamen wir jedenfalls einen Einblick in die kinematographische Zukunft. Nietzsches Satz von der wachsenden Wüste bekam hier auf einmal überraschend Bedeutung. Joao Marios Film, meiner und einer aus Niger waren die einzigen im Wettbewerb, die keinen Preis bekamen. Fairerweise muß man zugeben, daß im Jahre 1991 jede andere realistisch vorstellbare Jury ähnlich entschieden hätte. Die Jugend der Welt reagierte nicht anders als jeder andere wichtigtuerische Idiot.

 

Nach dem Film wollte ich etwas am Strand laufen. Ich hatte die letzten Tage Herzschmerzen und wußte nicht, ob ich mich nur im Schlaf verlegen hatte oder ob es sich um eine wirkliche Krankheit handelte. Vielleicht war es ja auch nur das bekannte einschnürendes Gefühl der eigenen Minderwertigkeit, das einem häufig auf Festivals begegnet. Am Strand begann gerade der Abend. Ich war in meinen Gedanken noch bei dieser Filmvorführung, da war er ganz plötzlich da, dieser Strand, ja, so muß ich es wohl ausdrücken, ganz plötzlich, nicht als Terrain, als etwas ganz anderes als Terrain, er war eine Art Offenheit, eine weite Offenheit, die in den Kopf eintrat - eine enorme Erleichterung nach all dem abgedunkelten Kinoerleben der letzten Tage. Ja, hier war offene Welt, in die man laufen konnte, Wasser und Abend und Strand, und ich lief barfuß hinein in die Weite und spürte dabei wieder die Schmerzen in der Herzgegend, und auf einmal wollte ich sterben, dieser Gedanke kam wie ein kurzer, heftiger Schnitt. Ja, sterben, ganz klar spürte ich es auf einmal, jetzt und in dieser Weite wollte ich sterben, während des Laufens, in kurzem heftigen Krampf. Und so lief ich den Strand entlang und "Sterben" wiederholte es sich in mir, "ich will sterben", und während ich weiterlief und nicht starb, fragte ich mich, ob ich tatsächlich sterben wollte, doch da meinte ich schon zu 80 Prozent: "Nein!"

 

Inzwischen weiß ich, daß solche Anwandlungen bei Männern meines Alters ganz normal sind. Sie entstehen in Momenten, in denen man merkt, wie der Geschmack der Jugendlichkeit, der Festivals wie dem von Rimini angeboten werden muß, sich in einem verflüchtigt hat, das Versprechen des Wachsenwollens und des Gleichmuts, der sich bei einer Niederlage schon einen neuen Weg suchen wird, und wo man zu spüren glaubt, daß die Wüste, in die hinein man sich so spielerisch bewegt hat, wirklich ist - wirklich, gnadenlos und unendlich. In diesen Momenten wird das Kreuz plötzlich als Pluszeichen interpretiert: man ist nicht mehr lebendig und noch nicht tot, man ist nur noch zähe Substanz. Womöglich ist genau dies auch der Moment, in dem wir unsere Augen noch einmal öffnen können und uns angemessener in der Wirklichkeit einzuordnen vermögen, anders jedenfalls, als man das als vor Selbstbehauptungswut berstender Jugendlicher versteht. So gesehen beginnt vielleicht erst nach solchen Momenten das sogenannte wirkliche Leben.

 

Nun, wirklich oder nicht - in dieser Nacht starb Alberto Moravia. Ich dagegen traf Joao Mario am nächsten Morgen beim Frühstück. Bei der Fotographie seines Films hätte er negatives Licht benutzt, sagte er, das würde folgendermaßen funktionieren: man leuchtet die Szene zuerst ganz gleichmäßig aus, und nimmt dann immer mehr Licht weg, bis es einem richtig erscheint. Es wäre ein subtraktives Verfahren, und wirke anders als die amerikanische Methode, bei der auf ein Grundlicht mehrere Glanzpunkte gesetzt werden. Das sei jedenfalls seiner Ansicht nach eines der Geheimnisse seiner Fotografie. Als ich das Daniéle später erzählte, sagte sie: "Ach er meint Neger!" - Neger sind Klappen, die sich an den Scheinwerfern befinden, um ihr Licht zu maskieren. Bei der Bildkomposition habe er sich an die Schule von Fontainebleau gehalten. "Die beiden Frauen, die sich an die Brustwarzen fassen?" fragte ich, "Ja", sagte er, und es sei sehr schwer gewesen, den Ausdruck auf den Gesichtern so hinzubekommen wie auf diesen Bildern, die Schauspielerinnen wollten sich einfach zu sehr bewegen.

 

Inzwischen hatte ich begriffen, daß er ein katholischer Filmmacher war, und daß Marienverehrung im Zentrum seines ästhetischen Empfindens stand. Ob mir Urbino gefallen hätte, fragte er, und blätterte in dem Piero de la Francesco Buch, in dem ich zum Frühstück eigentlich lesen wollte. Als Bewohner eines flachen Landes könne ich für Hügellandschaften kein rechtes Gefühl aufbringen, antwortete ich, im Grunde hätte mir schon die Abwesenheit eines Flusses wirkliche emotionale Beteiligung unmöglich gemacht. Ihm als Portugiesen ginge das wahrscheinlich anders, dort wären Hügel und Berge nie weit vom Meer. Ähnliches gälte für seine Frauenporträts - ich bewundere sie sehr, könnte mir aber als Protestant keinen Arbeitsprozeß vorstellen, der mich durch Kleinstarbeit zu diesem Optimum an Ausdruck brächte. Ich könne Schönheit nicht herauspolieren, sie wäre für mich nur zufällig erreichbar. Ich würde mehr auf die geometrischen Aspekte des Ausdrucks achten, und besonders interessierte mich dabei der Bildrand - vielleicht fände er das als Angehöriger einer Seefahrernation auch interessant, und dann erzählte ich ihm von meinen Überlegungen zum Rechteck.

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