K.Wyborny

Elementare Filmgeschichte

(Vortrag im Rahmen der Ausstellung "Kino wie noch nie" in der Generali-Foundation, Wien, am 20.1.2006, 19 Uhr)

unter dem Titel "Warum das Kino nicht Nein sagen kann" leicht gekürzt abgedruckt in Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18.1.2007


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Guten Abend, meine Damen und Herren, danke, daß Sie gekommen sind. Dank auch an die Generali Foundation, insbesondere Sabine Breitwieser und Cosima Rainer, und natürlich Harun Farocki und Antje Ehmann, ohne deren hier stattfindende Ausstellung "Kino wie noch nie", dieser Vortrag nicht stattgefunden hätte.

"Elementare Filmgeschichte" soll sein Titel sein. Nun, wir haben alle gewisse Vorstellungen von Filmgeschichte. Gewöhnlich spannen sie sich von den Entdeckern der filmischen Abbildung, also Edison oder den Gebrüdern Lumiere, über die frühen Pioniere (wofür der Name Griffith stehen mag) zunächst zur Blüte der Stummfilmzeit in den Zwanziger Jahren - also einerseits zum damaligen Hollywood oder dem sogenannten Expressionismus der Ufa, andererseits ins komplexe Frankreich etwa des Abel Gance oder den russischen Revolutionsfilm. Und von dort wird gewöhnlich der Bruch zum Tonfilm das Thema, zuerst in Schwarzweiß, in dem die sogenannte Filmsprache sich wieder vereinfachte, dann folgte der Farbfilm, kamen Cinemascope und das 70mm-Format - eine Entwicklung also, die von technischen Sprüngen bestimmt wird. Und in den Fünfziger Jahren gab es dann auch die ersten Geschichten des Films, insbesondere in Frankreich. Was sich, Zufall oder auch nicht, mit einer außerordentlichen Qualitätssteigerung der Filmproduktion paarte - wofür pauschal der Neorealismus oder dann die Nouvelle Vague stehen mögen, mit sagen wir Rosselini, Antonioni und später Resnais, Pasolini, Godard.

Aber ab Mitte der Sechziger Jahre befällt einen eine gewisse Ratlosigkeit, worin Filmgeschichte eigentlich besteht. Wohl gibt es weiter bemerkenswerte Autoren und Filme, aber es fehlt wohl ein gemeinverbindlicher Zug zur Weiterentwicklung, sieht man einmal von Sachen wie Dolby-Stereoton oder insbesondere dem Merchandizing ab, in dem die Filme Teilprodukt strategisch angelegter Marketing-Strategien werden, wozu nicht zuletzt Kinderbücher und Spielzeug gehören. Und ich erinnere mich an ein Gespräch mit Jean-Marie Straub, in dem er mir zu dieser Zerfaserung auf seine prägnante Art sagte: "Es gibt doch überhaupt noch keine Filmgeschichte."

Wohl gibt es inzwischen zahlreiche Filmmuseen, in denen die Geschichte des Film aufbewahrt wird, aber die Sammlungen haben alle etwas außerordentlich Disparates.

Und in der Tat: Nachdem in den Sechzigern etliche "Geschichten des Films" erschienen waren - ich nenne die Werke von Bardeche/Brasillach und Sadoul, oder in Deutschland das von Gregor/Patalas -, wurde es still um große Entwürfe. Stattdessen wurde die Geschichte des Films nun dem Lexikonformat zugeordnet, mittlerweile zum Teil auch auf CD. Offenbar verbietet der schiere Umfang der in aller Welt stattfindenden Filmproduktion (zumal er von mancherlei Subventionsstrategien abhängt, durch die selbst kleine Länder wie Portugal, Dänemark oder der Iran zu bemerkenswerter Präsenz gelangen) einen kohärenten Zugang, wobei selbst in den Sammlungen große Verwirrung darüber herrscht, was überhaupt aufbewahrt werden soll.

Soviel als grobe Skizze zum Begriff Filmgeschichte. Nun zum sogenannt "Elementaren", in dem versucht werden soll, einen gemeinsamen Zug heraus zu kristallisieren, der zwar in uns allen präsent ist, den zu fassen aber leider nicht ganz leicht ist. Denn er läßt sich nur aus der Erinnerung all der Filme gewinnen, die wir im Lauf unseres Leben gesehen haben. Und dort geraten wir rasch an die Grenzen unserer Gedächtnisleistungen. Wohl haben wir zum Teil recht präzise Erinnerungen an gewisse Höhepunkte der Filmkunst - die Treppe von Odessa aus Eisenstein "Potemkin", die Begegnung Gary Grants mit einem ihn attackierenden Flugzeug in Hitchcocks "North by Northwest", das gewaltige Raumgefühl in Godards "Le Mepris" oder Kubricks "2001", um ein paar der trivialsten spektakulären Kinoerlebnisse anzusprechen - aber es fällt schwer, das ihnen Gemeinsame herauszudestillieren. Und die Erinnerung von kompletten Filmen ist, wenn überhaupt, nur in einigen wenigen Fällen möglich.

Um dem abzuhelfen, hab ich in den frühen Siebzigern von einer Reihe mir interessanter Spielfilme, die im Fernsehen liefen, sogenannte Kompaktfassungen hergestellt, die eine schnelle Vergegenwärtigung zumindest wesentlicher Teile ihrer Struktur ermöglichen sollten. 30 solcher Versuche wurden dann 1974 - filmgeschichtlich in etwa chronologisch - aneinandermontiert, so daß ein 110 Minuten Film entstand, dem ich den Titel "Elementare Filmgeschichte" gab. An ihm ließ sich in groben Zügen ablesen, in welcher Richtung sich das Filmgeschehen bis etwa 1960 entwickelte. Ich meine, er hatte im Berliner Arsenal seine Premiere, aber ich erinnere auch einige New Yorker Aufführungen, eine im dortigen Whitney Museum. Und bei der Arbeit wiederum, die Sie gleich sehen werden und die als DVD Teil der hier stattfindenden Ausstellung ist, handelt es sich um ein 25-minütigen Auszug, den Harun Farocki daraus zusammengestellt hat, wofür ich ihm noch einmal herzlich danke.

Bevor wir ihn uns gemeinsam ansehen, noch ein Wort zu diesen vor dem Fernseher hergestellten "Kompaktfassungen". Sie beruhen auf einem extrem simplen Prinzip. Und zwar wurde bei jeder einzelnen Einstellung dieser Filme einmal kurz auf den Auslöser gedrückt. Dadurch registrierte die stativfixierte Kamera davon jedesmal 4 oder 5 Einzelbilder, was dazu führt, daß man - Filme laufen bekanntlich mit etwa 25 Einzelbildern pro Sekunde ab - in den Kompaktfassungen im Sekundenverlauf nun fünf oder sechs dieser aufeinanderfolgenden Einstellungen zu Gesicht bekommt. Für normale Kinoverhältnisse - gewöhnlich liegt die Einstellungslänge ja zwischen zwei und acht Sekunden - ein enormes Tempo, weshalb zu befürchten war, es ergäbe sich ein solches Durcheinander, daß es nur in Zeitlupe mit Gewinn wahrnehmbar wäre.

Aber es stellte sich heraus, daß dem nicht so ist. Denn tatsächlich sorgen offenbar gewisse, im Spielfilm stets präsente, Ordnungsstrukturen dafür, daß etliche Einstellungen in beinah identischer Form wiederkehren. Und dadurch behält man als Zuschauer auch in den Kompaktfassungen mit etwas Anstrengung eine gewisse Orientierung, die sich natürlich noch verbessert, wenn man den Film vorher schon mal gesehen hat. Mehr über diese Ordnungsstrukturen, deren Entwicklung insofern das Elementare der Filmgeschichte entscheidend bestimmt, im zweiten Teil dieses Vortrags, also nach dieser Arbeit.

Natürlich enthalten diese Kompaktfassungen nicht das komplette Aroma der dazugehören Filme. Trotzdem bieten sie ein umfassendes Archiv fast aller in Spielfilmen anfallenden Schnittformen, deren Häufigkeit, wie Sie gleich sehen werden, man anhand dieser Beispiele überraschend klar abschätzen kann. Was wiederum für eine Theorie des Filmschnitts eine große Erleichterung ist, und so wird Sie kaum erstaunen, daß ich den Film in meinen Vorlesungen zur Schnitt-Theorie immer mit großen Gewinn habe verwenden können. Dennoch ist der Erfassungswert in anderer Hinsicht deutlich beschränkt. .

Der legendäre Empire-State-Film Warhols würde sich z. B. auf eine Sekunde - also die Rollenwechsel - reduzieren, zu also nicht mehr als einem Witz (was allerdings wiederum damit korrespondiert, daß Warhols Filme in der Filmgeschichte gewöhnlich ebenfalls bloß als Witz abgehandelt werden). Aber auch Handkameras, Schwenks und insbesondere Kamerafahrten, in denen viele ja die Essenz der Filmkunst erkennen wollen, kommen nicht im mindesten zur Geltung.

Um auch solchen Einstellungsmodi gerecht zu werden, wurden einige dieser Kompaktfassungen mit einem speziell dafür entwickelten Zeitrafferverfahren aufgenommen. Mit diesem wird der komplette Film verkürzt abgebildet, so daß man auch von diesen Einstellungen und ihrer Häufigkeit einen gewissen Eindruck bekommt. Es stellt sich indes heraus, daß Kamerafahrten in den meisten Filmen nur kurzzeitig präsent sind, weil das Filmgeschehen gewöhnlich durch die Stativkamera aufgenommen wird, mit nur leichten, durch die Bewegung der Schauspieler, die man im Bildzentrum halten will, modifizierten Korrekturen.

So viel zum Verfahren. Was aber kann man nun auf dem gleich projizierten Film wirklich sehen, worauf lohnt sich zu achten, wenn man sich sowas zum ersten Mal anschaut? Nun, zum einen wird Sie die Dominanz verblüffen, die das menschliche Gesicht darin hat, insbesondere die Nahaufnahme, und in wie weitem Maße die einzelnen Filme davon strukturiert sind. Am meisten erstaunt daran wohl die geradezu inflationäre Verwendung von Blicken. Und zum zweiten wird im Verlauf überraschen, ein wie großer Teil der auftauchenden Schnitte von der Inszenierung des Raums bestimmt werden. Denn die vielen irgendwas erblickenden Gesichter, sie finden nicht in irgendeinem ästhetischen Nirgendwo Platz, sondern gewöhnlich sind sie in gut definierten Räumen - innen und außen - verankert, wobei wohl weniger erstaunt, wie sehr, schon rein statistisch, Interieurs dominieren.

Nun sind dies kaum spektakuläre Erkenntnisse, irgendwie hat man das immer gewußt, es gehört zu unserem Selbstverständnis von Film, ohne daß wir es überhaupt formulieren, weil wir anderes - z. B. Kamerafahrten, abgründige Psychologie oder spektakulär inszenierte Totalen - für weit relevanter halten. Doch wie weitgehend diese simplen Beobachtungen die Grundstruktur der Filme bereits bis ins Kleinste bestimmen, war zumindest für mich eine ziemliche Überraschung.

Zum Schluß noch kurz was zur Filmauswahl. Schon die 110 Minuten Langfassung stellt mit ihren 30 Beispielen selbstverständlich keinen wirklich tauglichen Abriß der Filmgeschichte dar, die einzelnen Filme ergaben sich ja nur zufällig aus dem, was damals im Fernsehen zu sehen war, kaum einer gehört zu meinen dezidierten Favoriten. Dies wurde durch die Auswahl Farockis natürlich weiter reduziert. Trotzdem bieten grade die 10 von ihm ausgewählten Filme nun doch so etwas wie einen erstaunlich repräsentativen Querschnitt durch ein äußerst komplexes Geschehen.

Es beginnt mit Griffiths "Birth of a Nation" von 1915, in dem wiederum Griffiths eigene Anstrengungen so gültig kulminierten, daß seine Themen - Krieg und Bürgerkrieg - von der Struktur her (selbst in sagen wir Coppola "Apocalypse now") mit Hilfe des Films auch heute nicht sehr viel komplexer dargestellt werden können, auch wenn sie visuell und insbesondere natürlich in der Personalpsychologie nun intensivere Anmutung haben. Es folgt "Die Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki" von Lew Kuleschow, mit dessen Namen der sogenannte Kuleschow-Effekt verbunden ist - daß nämlich der Eindruck, den ein Zuschauer von den inneren Vorgängen in einem Schauspieler hat, abhängig ist von demjenigen, was per Schnitt vor oder nach ihm gezeigt wird, ein Baby etwa oder eine scheußliche Szene. Dieser 1924 entstandene Film mag für den russischen Revolutionsfilm in allen seinen Stärken und Schwächen stehen. Es folgt Sternbergs "Docks of New York" aus dem Jahre 1928, in dem die von Lichteffekten unterstützte geschmeidig-gefällige Erzählform das damaligen Hollywood-Kinos erkennbar wird, die seinerzeit auch in Frankreich oder Deutschland in Serie produziert und - insbesondere von Kracauers berühmten kleinen Ladenmädchen - verstanden werden konnte. Den Abschluß der Stummfilmära bildet Murnaus "Tabu", 1931 fertiggestellt, wo exotische Landschaften, also sehr viel Außenaufnahmen, und im Rahmen des damaligen Filmgeschehens erfreulich antiexpressiv agierende Laiendarsteller das Bild dominieren.

Als Beispiel für einen frühen Tonfilm ist dann Sternbergs "Morocco" von 1930 zu sehen - gefolgt gleich von Orson Welles "Citizen Kane" aus dem Jahre 1941, worin man vielleicht zum ersten Mal die Bedeutung des Raums als gewissermaßen Käfig für die handelnden Personen vorgeführt bekommt, ein Film, in dem die einzelnen Einstellungen größere Bedeutung haben als in den damals bereits üblichen Schuß-Gegenschuß-Montagen. Aber "Citizen Kane" blieb lange ein Einzelstück, die Filmform selbst lief um 1948 auf Hathaways "Kiss of Death" zu. Dort sind die heute geläufigen Schnittusancen bereits deutlich ausgeprägt, insbesondere die Zerlegung der Totalen in aufeinanderfolgende über längere Zeit parallelgeschnittene Nahaufnahmen, und fanden zu einer nun bis in die letzte Fernsehserie gültigen Formulierung. Den vorläufigen Abschluß dieser Entwicklung bildet 1954 Nicholas Rays "Johnny Guitar", worin ein ähnliches Verfahren im Western Unterschlupf suchte. Im sich daran anschließenden chinesischen Film "Das rote Frauenbataillon" von 1970, schon einen Musikfilm, hat dagegen die konventionelle Handlung nur noch periphere Bedeutung. Und zum Ausklang schließen sich Kompaktfassungen einiger Kurzfilme Kenneth Angers an, die, zwischen 1950 und 1963 entstanden, andeuten, daß es unabhängig vom großen Kinogeschehen seit etwa 1950 auch Filmformen gab, die sich vom Kommerziellen fortbewegten und dann in Avantgarde- und Experimentalfilmen zu eigenen Montageformen fanden. Obwohl diese mit dem Kino kaum noch zu tun haben, sind sie jetzt auf den Musikkanälen in immer deutlicherer Präsenz - inzwischen mitunter indes auch auf die Kinoformen rückwirkend - wahrzunehmen.

Daß die Arbeit nun "Histoire du cinéma" und nicht "Filmgeschichte" heißt, ist einerseits als Referenz auf die Französischen Filmhistoriker zu verstehen, in denen das Kino noch immer die Terminologie determiniert, und anderseits will es klarmachen, daß es, wie eben angedeutet, nun andere Filmformen gibt, die im Kino nur noch in Randbereiche integriert werden können.

Ich habe mich entschlossen, dazu eine Musik zu schreiben, obwohl sie den strikt-analytischen Zugang zu dem Bildmaterial eher erschwert. Aber ich wollte dadurch etwas von der sonderbaren Stringenz vermitteln, in der all diese Filme ineinander fassen und, aufeinander fußend, in eine bestimmte Richtung drängten, ohne daß den meisten, wenn nicht allen der daran Beteiligten, überhaupt klar war, worin eigentlich das Ziel bestand - eine gewaltige Ideenmaschine, die, gespeist von den Erwartungen des Publikums, das Geschehen des ganzen Erdballs zum Thema sich machte. Das Ziel war offenbare eine kompakte auf alles und jedes anwendbare Form, die mit Hilfe des Filmschnitts jedes Geschehen systematisch rein visuell aufbereiten kann - sogar auf dem Mars oder in einer fernen Galaxis. Mit einerseits enormen Stärken, bei denen man als Zuschauer, im Gefühl, am Geschehen unmittelbar beteiligt zu sein, in ein wunderbares Träumen gerät - und natürlich auch gewissen Schwächen, die die Kehrseite der Medaille bilden. Aber über die wollen wir heute nicht sprechen. Ich hoffe, daß durch die Musik, selbst in diesem analytischen Produkt, etwas von dieser träumerischen Qualität entsteht, die wir im Kino so schätzen.


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Vorführung von "Histoire du cinéma"

(25 Minuten auf DVD)


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So, ich hoffe, Sie haben den Film - er enthält etwa 8000 Schnitte - einigermaßen gesund überstanden. Das Tempo ist, wie gesagt, etwas ungewöhnlich, aber in Videoclips sieht man heutzutage streckenweise ähnlich schnelle Montagefolgen. Selbstverständlich erwarte ich nicht, daß Sie nun in der Lage sind, daraus gleich eine Quintessenz zu bilden. Aber ich möchte Sie auf einige Erkenntnisse hinweisen, die man schon nach erstem Betrachten gewinnen kann.

Ich sprach von der Dominanz, die das menschliche Gesicht in all diesen Kino-Filmen hat. Sie werden dem nun gewiß zustimmen. Und in der Tat können wir daran eines der formalen Grundprinzipien filmischen Erzählens erkennen: Jeder Film führt uns zu seinem Beginn einen Satz von drei, vier Gesichtern nahe, die wir in seinem Verlauf in immer neuen Verwandlungen und neuen Situationen sehen. Die Filme werden zu einer Geschichte des Mienenspiels dieser Gesichter, aus dem wir uns einen Reim zu machen versuchen. Das war schon bei Griffith so, und es hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Gewiß, die Schauspielerleistungen sind differenzierter geworden, auch die Schminke sitzt besser, und gewiß ist die Psychologie längst verfeinert, aber von einer Sequenz zur nächsten wird nach wie vor mit den gleichen Schnittverfahren vorgedrungen, die bereits Griffith entdeckt hatte.

Den dabei unweigerlich auftauchenden Schnitt (der allerdings manchmal durch dazwischen geschaltete Einstellungen verzögert wird) kann man als linearen Schnitt bezeichnen. Durch ihn werden zwei einander raumfremde Einstellungen verbunden, wobei man in beiden den selben Darsteller sieht. Durch das Nacheinander haben wir als Zuschauer dann den Eindruck, der Darsteller habe sich von einer Einstellung in die andere bewegt und an der Schnittstelle sei eine gewisse Zeit vergangen. Die nämlich, die er benötigte von einem Raum zum nächsten zu kommen, im Extremfall also von Wien nach Paris. Interessant daran ist, daß man dadurch leicht Zeitsprünge in den Ablauf integrieren kann, was selbst bei nichtaristotelischen Bühnengeschehen nur mühsam zu bewerkstelligen ist. Durch dieses Verfahren wird in jedem Film peu a peu eine Kette von Raum- und Zeitsprüngen erzeugt, in und zwischen denen sich das Geschehen abspielt, mit Verzweigungen, Trennungen und Wiederbegegnungen, seien sie nun konfliktgeladen oder freundlicher Art, aus denen das Arsenal der menschlichen Interaktionen nun einmal besteht. .

Zugleich sieht man an diesem Film, daß die sozusagen raumerzeugenden, von Zeitsprüngen begleiteten Schnitte relativ selten sind. Die Mehrzahl der gesehenen bilden Schnitte, bei denen sich das Geschehen in einem für eine gewisse Zeit festgelegten Raum abspielt. In diesem wird zwischen Ausschnitten (mit meist Gesichtern) in gewissermaßen Echtzeit unentwegt hin- und hergesprungen - was gewöhnlich mit dem Austausch von Dialogen verbunden ist und/oder mit dem von Blicken, was auch in den Kompaktfassungen ins Auge springt. Mehr als achtzig Prozent der Schnitte in Filmen haben was mit dem Austausch von Blicken zu tun. Und am Gesehenen ist abzulesen, daß sich dies im Lauf der Filmgeschichte bis zumindest ins Jahr 1950 immer mehr häufte. Und wenn Sie sich heutige Fernsehserien ansehen, werden Sie entdecken, daß sich dies noch vermehrte, schon weil die Totale, in der der Blick nur untergeordnete Bedeutung hat, gewöhnlich sehr teuer ist.

Dieser zweite Schnitt-Typ, der durch das sogenannte Schuß-Gegenschußverfahren mit rahmender Totale charakterisiert wird, bei dem zwischen zwei Personen munter hin- und hergesprungen wird, bildet das Rückgrat der Filmform. Im Gegensatz zu den raumerzeugenden linearen Schnitten ist er ein raumbenutzender - raumbenutzend insofern als mit ihm auf eine Räumlichkeit geschnitten wird, die uns als Zuschauer bereits bekannt ist. Darüber hinaus schnitt man im Lauf der filmgeschichtlichen Entwicklung - wie in Hathaways "Kiss of Death" oder Rays "Johnny Guitar" deutlich erkennbar - immer häufiger zu identischer Kadrierung zurück. Und genau dieses identische Kadrieren ermöglichst uns, diese Kompaktfassungen mit relativer Leichtigkeit zu sehen. Tatsächlich scheint dies aber auch im Kino, also bei langsam normalem Sehen, als unterschwelliger Subtext spürbar zu sein, der uns das träumende Sehen erleichtert. Denn man beobachtet, daß fast nur Filme unsere Kinos erreichen, in denen diese Schnittformen in möglichst reiner Ausprägung zu sehen sind. Filme, die nur sehr wenige sauber gesetzte Schuß-Gegenschußverfahren enthalten, haben es deutlich schwerer.

Interessant ist nun, daß man einen ganz guten Eindruck von einem Film erhält, wenn man den Ton und die zahlreichen Dialoge gar nicht hört, sondern sich nur visuell orientieren kann. Aber offenbar haben sich die Interaktionsrituale nicht nur im Schuß-Gegenschuß-Verfahren derart standardisiert, daß dem Mienenspiel der Darsteller bereits entnehmbar ist, worum es geht und worauf die Sequenz im Rahmen einer Filmdramaturgie hinauslaufen soll. Mehr als eine Serie wie auch immer gestalteter Konflikte und Verbrüderungen - aktuell oder vorerst vorzögert, aber stets gespeist von den vielfältigen Intrigen des menschlichen Begehrens, die das Leben und nicht zuletzt auch die Literatur uns zur Verfügung stellen - gibt die klassische Filmform nur selten her.

Es stellt sich natürlich die Frage ob sich diese Form seit den fünfziger Jahren weiterentwickelt hat. Ich meine, rein schnitt-technisch oder dramaturgisch ist das nur sehr beschränkt der Fall - und wenn, eigentlich nur in atmosphärisch strukturierten Randbereichen, die bloß der Intensivierung des Kinoerlebnisses dienen. Gewiß gibt es, bei etwa Godard, noch etliche Fortschritte, aber er hat damit büßen müssen, daß seine Filme nicht mehr in die Kinos gelangten. Ansonsten ist selbst im atmosphärischen Bereich rein formal kaum etwas zu entdecken, was nicht bei Eisenstein oder Vertov bereits weit prägnanter ausgestellt war.

Es ist ja häufig von einer Filmsprache die Rede, manche sprechen sogar von einer Grammatik. Wenn es eine solche gibt, müßte sich ihre Analyse vor allem mit den ihr zugrunde liegenden Schnittstrukturen befassen. Daß ein System dahinter steckt, ist augenfällig. Und ich meine schon anhand dieser kurzen Beispiele wird ersichtlich, daß jenes System offenbar mit der Konstruktion von dem Zuschauer einigermaßen plausibel erscheinenden Räumen verbunden ist, und deren anschließender systematischer Benutzung. Kann man so etwas Sprache nennen?

- Ich meine nicht. Denn es fehlt diesem System einer der wesentlichsten Bestandteile jedweder Sprache, und das ist die Negation. In seiner simpelsten Ausprägung also das Wort Nein. Wohl kann es ein Darsteller jederzeit aussprechen, aber es gibt kein Verfahren, es nonverbal, es rein visuell auszudrücken. Und das ist vielleicht eine der großen Schwächen dieses Systems: es kann sich allem und jedem zur Verfügung stellen, stets - jedenfalls bei sauberem Handwerk - erscheint es einem als Zuschauer irgendwie plausibel. Aber Nein sagen kann es nur in Form eines Lippenbekenntnisses. Das Kino ist ein Medium der Bejahung..

Dennoch meine ich, daß dieses System damit nicht entwertet ist. Denn dieses raumgestützte Erzählen (für das es in der Literatur etliche Vorläufer gibt) - es ist eines der großen Geschenke der Filmindustrie an der Menschheit. Man darf nämlich nicht vergessen, so trivial es sich anhören mag, daß es sich um eine Strukturierung von Zeit handelt, und Zeit ist unseren Sinnesorganen das größte Geheimnis. Und nicht nur für unsere Sinnesorgane. Selbst unsere entwickeltsten Naturwissenschaften haben uns kein wirkliches Verständnis der Zeit geliefert, ihr Entstehen und ihr Vergehen, ihre offensichtliche, jeder Symmetrie spottende Unumkehrbarkeit, bleibt auch den Physikern ein so großes Rätsel, daß es sich nur durch einen Brachialakt wie den Urknall vereinfachen, indes nicht wirklich verstehen ließ. Die Betrachtungen des Heiligen Augustinus über das Phänomen Zeit (in denen anstelle des Urknalls noch der Schöpfergott steht) werden von den Naturwissenschaften kaum übertroffen. Und wenn wir genau hinschauen gibt es erstaunlich wenige Strukturierungen von Zeit, die uns zur Verfügung stehen - die Dichtung, die Literatur, die Geschichtsschreibung, also das erst überlieferte und dann geschriebene Wort, früh auch in Form des Dramas, sie waren lange das einzige, mit dem man Zeit zwar nicht in den Griff aber doch in den Vorstellungsbereich bekam.

Nur mühsam bildete sich eine wortunabhängige heraus: die Musik. Und, mit ihr gewöhnlich verbunden, aber weniger präsent: der Tanz. Auch von einer Sprache der Musik ist ja oft die Rede, aber auch das ist nicht ganz präzise, auch bei ihr handelt es sich nur um ein System, durch das Töne so verbunden werden, daß ein gefälliger Zusammenhang entsteht, in dem man vielleicht etwas erkennen kann. Und auch die Musik kann nicht Nein sagen. Doch das kann die Welt ebensowenig, auch das Universum spricht keine Sprache. Das den Menschen gegebene "Nein" ist Ausdruck einer Freiheit, die sich das Universum sonst nicht gestattet. Daß auch uns Menschen meist nur die - oft schmerzhafte - Bejahung bleibt, steht natürlich auf einem anderen Blatt, von dem uns mancherlei Philosophie erzählt.

Und seit etwa 1915, seit Griffith, gibt es nun ein weiteres System: den Film. Ein System, das durch den Schnitt erst ermöglicht wurde, und von dem sich die Erfinder des Films nicht haben träumen lassen: für die Lumieres oder Edison ging es allein um die Abbildung von Bewegung, nicht um den von Zeit selbst. Und hätten als Speichermedien irgendwelche Kristallwürfel gedient, wäre niemand auf die Idee gekommen, zu schneiden. Nur durch den Zufall der Perforationslöcher und die leichte Zertrenn- bzw. Zusammenfügbarkeit des Bildmaterials wurde so etwas wie systematischer Filmschnitt erst möglich - und damit eine weiter gehende Abbildung von Zeit, die über simpel abgebildete Kontinua weit hinausgeht. Auch der Film, den wir grade sahen, ist so eine weiter gehende Abbildung, die in nur 25 Minuten den ganzen Erdball und immerhin 40 Jahre umfaßt, vielleicht trägt das zu einer gewissen Melancholie bei, die einem beim Betrachten leicht überfällt. Weiß der Teufel, wozu es gut ist und zu welchen Erkenntnissen diese seit nun einem Jahrhundert bestehende neue Möglichkeit die Menschheit führen wird. Vielleicht führt es ja nur zurück in die Höhlen der Neanderthaler, aus denen man sich nicht mehr ins Tageslicht traut - insofern könnte es sich als Verhängnis erweisen.

Wie dem auch sei, ich sehe, daß unsere Zeit nun ziemlich fortgeschritten ist, und ich denke ich hör jetzt mal auf. Ich hoffe, Sie haben einen Eindruck bekommen, was die Filmgeschichte mittlerweile so angerichtet hat. Vielen dank meine Damen und Herren.


Hamburg, 14. 1. - 16.1. 2006


Anhang 1: Die Filme der "Histoire du Cinéma"

D.W. Griffith "The Birth of a Nation" (1915)
L. Kuleshov "Die Abenteuer des Mister West im Lande der Bolschewiki" (1924)
J. v. Sternberg "The Docks of New York" (1928)
F.W. Murnau "Tabu" (1931)
J.v. Sternberg "Morocco" (1930)
O. Welles "Citizen Kane" (1941)
H. Hathaway "Kiss of Death" (1947)
N. Ray "Johnny Guitar" (1954)
V.R. China "Das Rote Frauen-Bataillon" (1970)
K. Anger - Kurzfilme: "Fireworks" (1947), Rabbitt's Moon" (1950), "Eaux d'Artifice" (1953), "Invocation of my Demon Brother" (1969)

Die Filme:


Anhang 2: Die Filme von "Elementare Filmgeschichte"

Rolle 1 (9 Filme)

D.W. Griffith "The Birth of a Nation" (1915)
L. Kuleshov "Die Abenteuer des Mister West im Lande der Bolschewiki" (1924)
W. Pudovkin "Die Mutter" (1926)
G.W. Pabst "Die Büchse der Pandora" (1928)
J. v. Sternberg "The Docks of New York" (1928)
G.W. Pabst "Die Liebe der Jeanne Ney" (1927)
F.W. Murnau "Tabu" (1931)
W. Pudovkin "Der Deserteur" (1933)
M.C. Cooper und E.B. Schoedsack "King Kong" (1933)

Rolle 2 (12 Filme)

J.v. Sternberg "Morocco" (1930)
R. Flaherty "Man of Aran" (1934)
E.F. Cline "Million Dollar Legs" (1932)
J.v. Sternberg "The Scarlett Empress" (1934)
O. Welles "Citizen Kane" (1941)
R. Walsh "Gentleman Jim" (1942)
J. Ford "Fort Apache" (1948)
H. Hathaway "Kiss of Death" (1947)
F. Lang "Beyond a Reasonable Doubt" (1956)
J.v. Sternberg "The Saga of Anatahan" (1953)
A. Hitchcock "Under Capricorn" (1949)
N. Ray "Johnny Guitar" (1954)

Rolle 3 (9 Filme)

A. Hitchcock "North by Northwest" (1959)
J. Ford "The Searchers" (1956)
N. Ray "Party Girl" (1958)
A. Kurosawa "Sanjuro" (1962)
Hsieh Tsin "Das Rote Frauenbataillion" - "The Red Detachement of Women" (1970)
K. Anger - Kurzfilme: "Fireworks" (1947), Rabbitt's Moon" (1950), "Eaux d'Artifice" (1953), "Invocation of my Demon Brother" (1969)
J. Losey "Secret Ceremony" (1968)
R. Rosselini "La Prise de Pouvoir par Louis XIV" (1968)
R. Bresson "Quatre Nuits d'un Reveur" (1972)